© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000

 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Wahrhaftigkeit
Karl Heinzen

Da Otto Schily nur bis zur nächsten Bundestagswahl im Amt bleiben möchte, kann er es sich leisten, mehr Wahrhaftigkeit in der Politik anzumahnen. Seine Bitte, die Menschen diesmal nicht über die Konsequenzen der neuerlichen, nun endlich auch einmal den indischen Subkontinent zum Zuge kommen lassenden Immigrationswelle zu belügen, verdient dennoch Respekt. So viel Vertrauen in die demokratische Zuverlässigkeit der Bürger hat bislang kaum ein Minister aufzubringen gewagt. Die Politik der Bundesregierung ist so erfolgreich, daß fundamentale Zielvorgaben der Wirtschaft nicht mehr durch Wahlen in Frage gestellt werden können.

Man kann es wieder wagen, mutig zu sein: Wer indische Computerspezialisten für drei bis fünf Jahre ins Land holen will, sollte, so Otto Schily, nicht verschweigen, daß diese Menschen auch nach Ablauf der Frist hier bleiben werden. Schon der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ohne Einwanderer aus Südeuropa und der Türkei nicht möglich gewesen. Man schämte sich aber nicht, sie durch ihre Bezeichnung als "Gastarbeiter" im Unklaren über ihre Lebensperspektive in Deutschland zu lassen. Diesen Fehler, dieses Vergehen dürfen wir nun nicht wiederholen, zumal wir es nicht mit ungelernten Arbeitern zu tun haben, sondern mit Experten, die um ihre Qualifikation wissen und die sich nicht so einfach in die Unterschicht abschieben lassen werden.

Es geht darum, der guten Gründerzeit-Stimmung keinen unnötigen Dämpfer zu versetzen. Auf dem Spiel steht das Vertrauen vieler Menschen in die Möglichkeit einer zuverlässigen privaten Altersvorsorge durch Aktienbesitz. Anders als die CDU es aus der liebgewonnenen Verantwortungslosigkeit der Opposition heraus behaupten kann, sind daher die Inder von heute nicht durch die etwaigen Kinder von morgen zu ersetzen.

Im globalen Wettbewerb wäre es anachronistisch, den Erfolg der Politik von dem der Unternehmen zu trennen und ihn in Arbeitsplätzen zu messen. Dennoch ist gut vor- stellbar, daß sich die Beschäftigungsoffensive für Immigranten mittelbar und mittelfristig sogar für diejenigen auszahlt, die bereits hier leben: Der Bedarf an Pizzakurieren, Raumreinigern und Fast-Food-Verkäufern wird wachsen und selbst Modernisierungsverlierern neue Aufstiegschancen im Dienstleistungssektor bieten.

Die guten Erfahrungen, die wir in den IT-Unternehmen machen werden, lassen sich also bereits heute absehen. Es wäre folglich widersinnig und willkürlich, nicht auch andere Branchen ins Auge zu fassen. Eine Öffnung des gesamten Arbeitsmarktes sollte kein Tabu sein, um Chancengerechtigkeit für alle Unternehmen herzustellen. Auch dies sollte eine Politik der Wahrhaftigkeit im Sinne Otto Schilys daher nicht verschweigen: Die Immigranten werden nicht nur bleiben, es werden auch viel mehr sein als wir heute vermuten.


 
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