© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000

 
Deutsche Einheit: Vor 10 Jahren fanden die ersten freien Wahlen statt
Beginn der Demokratie
Moritz Schwarz

Herr Pfarrer Führer, die durch ihre Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche zustande gekommenen Montagsdemonstrationen waren derUrsprung der politischen Entmachtung der SED, die ihren Höhepunkt in den ersten Volkskammerwahlen am 18. März vor zehn Jahren fand.

Führer: Im Rahmen der 1980 von den evangelischen Kirchen als gesamtdeutsche Aktion beschlossenen "Friedensdekade" veranstalteten wir ab 13. September 1982 wöchentlich unsere Montagsgebete. Die waren ein freies Forum: schließlich kamen die Leute von überall her zu uns, weil sie hier frei reden konnten. Später, 1989 begann die Volkspolizei die Zufahrtsstraßen zu sperren, wenn wir Friedensgebet hatten.

Also ging es ursprünglich nicht um Freiheit sondern um Frieden. Für dieses Ziel aus der SED-Propaganda gelang es einen bescheidenen Freiraum zu gewinnen und diese bescheidene Freiraumerfahrung ließ den Wunsch nach politischer Freiheit zu?

Führer: Ja, die Montagsgebete waren Friedensgebete und richteten sich nicht gegen den Staat, sondern gegen das ungeheure Aufrüsten in Ost und West, statt gegen den Sozialismus, gegen den Militarismus auf beiden Seiten. Daraus folgten Wehrdienstverweigerungen und die Frage nach dem Wehrkundeunterricht in den Schulen. Aus diesen Fragen heraus bildeten sich Basisgruppen, die sich dann auch mit anderen Menschenrechtsfragen beschäftigten und sich schnell der Demokratie zuwandten.

Wie aber kam es dann von den passiven Gebeten und Diskussionen zu den aktiven Demonstrationen, die den Weg zum Wechsel des 18. März geebnet haben?

Führer: Nach den Gebeten versammelten sich die jungen Leute vor der Kirche und vereinten sich mit denen draußen, die in der Kirche keinen Platz gefunden hatten oder die die Kirche nicht betreten wollten. Daraus erwuchsen die Demonstrationen. Ich selbst ging ins Pfarrhaus, denn bei Verhaftungen hatte ich die Namen zu registrieren, und Flüchtenden Unterschlupf zu gewähren. Wenn die Vopos einen herausgriffen, schrie derjenige laut seinen Namen, damit irgendeiner ihn notieren und ihn mir zur Erstellung einer Liste zukommen lassen konnte. Wir hatten hier im Auge des Taifuns genug zu tun.

Hätten Sie Sich denn damals vorstellen können, daß es bereits im darauffolgenden März zu freien Wahlen kommen würde?

Führer: Das hätten wir in unseren wildesten Träumen nicht gedacht. Niemand hätte damals gewagt, so etwas vorauszusagen.

Also begann alles nicht mit Widerstand, sondern mit Resistenz. Wenn Sie also freie Wahlen gar nicht direkt anstrebten, welches Ziel hatten sie dann damals genau?

Führer: Das Ziel war nicht den Staat zu stürzen. Wir haben vielmehr nur auf die Menschenrechtsverletzungen in der DDR reagiert. Wir wollten einen Freiraum für die Menschen schaffen, um sich zu artikulieren und zu informieren. Und das war in einer Diktatur gefährlich genug.

Wären Sie denn auch mit einer "rechtsstaatlichen Diktatur" zufrieden gewesen oder war unterschwellig immer klar, daß man bis zu freien Wahlen immer weiter machen würde?

Führer: Ich dachte zunächst nicht in diese Richtung. Aber die Basisgruppen hatten von Anfang an auch kompakte politische Ziele: Forderungen etwa, wie "Freie Wahlen!" Der Theologe Heino Folke in Erfurt prägte den Begriff vom "verbesserlichen Sozialismus". Wir bezweifelten aber damals schon, ob denn mit dem "realexistierende Sozialismus" mehr als nur kosmetischen Korrekturen möglich wären. Bald wurde uns klar, daß so für freie Wahlen keine Chancen bestünden. Gefordert wurden also auch freie Wahlen schon sehr früh. Nicht von mir, der Kirche, aber von den jungen Leuten unter unserem Dach in ihren sich langsam ausweitenden Protesten, auf die die SED verhängnisvollerweise keine rechte Antwort fand. Und das hat ja dann eine rasante Entwicklung genommen, bis hin zu den Wahlen.

Sie beschreiben den Prozeß des Machtverfalls, der dann im Moment der Machtübergabe am 18. März seinen Höhepunkt fand. Wie bewerten Sie die Wahlen in diesem Zusammenhang?

Führer: Nein, in diesem Zusammenhang sind die Wahlen nicht der Höhepunkt, sondern der Schlußpunkt. Der Höhepunkt war der 9. Oktober hier in Leipzig, denn das war der Tag der Entscheidung. Das war der Tag der Revolution. Hätte es an diesem Tag eine chinesische Lösung gegeben, wäre es zu einem 9. November nie gekommen.

Sie meinen den Tag der ersten Großdemonstration?

Führer: Ja. Der 9. Oktober war der Tag an dem das Volk triumphiert hat. Am 9. November hat das Regime kapituliert und am 18. März in der Person Honeckers abgedankt. Erinnern Sie Sich wie verwirrt und unkoordiniert die Maueröffnung durch Günter Schabowski erfolgt ist? Das zeigt, wie sehr das Regime schon getroffen war, und daß nicht der 9. November oder der 18. März, der Tag der Entscheidung war, sondern deren Folge.

Ist der 18. März also nur ein symbolischer Tag?

Führer: Nein, der 18. März ist ein sehr wichtiges Datum, genauso wie der 6. Mai, der Tag der Kommunalwahlen. Denn damit beginnt eine jede Demokratie.

Wie haben Sie den 18. März selber erlebt?

Führer: Das war sehr ernüchternd, denn es gelang Helmut Kohl alles an sich zu reißen. So mußten etwa bei den abschließenden Wahlkundgebungen in Leipzig alle Parteien auf kleinere Plätze ausweichen, während die CDU am 14. März den großen Augustusplatz vor dem Gewandhaus belegt hatte, denn Dr. Kohl sprach. Ich bin dann am Abend nach Dienst auch da hin gegangen. Ich war dort so etwa zwanzig bis dreißig Sekunden, denn neben mir stimmte eine Gruppe dann den Schlachtruf "Helmut, rette uns!" an. Das war der Schrei nach dem Messias, und da wurde mir Himmelangst und Bange: Eine Atmosphäre ungeheurer Illusion und materialistischer Primitivität. Am Abend der Wahl war ich mit anderen in das ZDF-Zelt eingeladen, das Wahlergebnis zu kommentieren. Das ist dann aber irgendwie schiefgegangen, und so bin ich nach Verkündung des Ergebnisses schnell verschwunden. Denn das war schon eine ungeheure Ernüchterung, gewählt haben die Leute das Kapital. Was christlich begonnen hatte, hatte nun die wesentlichen größere Gefahr des praktischen Materialismus heraufbeschworen, nach der langen Phase des, wenigstens nicht attraktiven, theoretischen Materialismus. Und das hat sich ja inzwischen auch voll bewahrheitet.

Die Revolution war kaputtgemacht: Statt eines deutschen Aufbruchs von Ost nach West, eine bundesdeutsche Entmündigung von West nach Ost?

Führer: Ja, ungeschminkt und pointiert gesagt. Aber es ist zugleich etwas sehr wichtiges geschehen und das kann man gar nicht genug betonen und das sollten auch Sie bei Ihrem Urteil bedenken: Es waren freie Wahlen! Es war die erste freie Entscheidung seit 1946.

Haben Sie Verständnis für diese Entscheidung der Mehrheit am 18. März?

Führer: Ja doch, nach so vielen Jahren im Ghetto.

Hatten Sie denn etwas anderes erwartet?

Führer: Nach der Erziehung der Menschen in der DDR zum blanken Materialismus und Atheismus war nichts anderes zu erwarten.

Statt nationaler Wiedervereinigung gab es dann einen materialistischen Anschluß. Hatte die neugewählte Volkskammer noch die Möglichkeit zu einer schöpferischen Umsetzung dessen, was die DDR mit in die deutsche Einheit brachte, nämlich der Revolution?

Führer: Wie ich schon gesagt habe hatte sich die Mehrheit der Wähler am 18. März für den Westen statt für ein neues Deutschland entschieden. Das muß man fairerweise berücksichtigen. Außerdem bot die außenpolitische Konstellation durch das Treffen im Kaukasus eine günstige Gelegenheit, die man nicht verstreichen lassen durfte, auch das muß man fairerweise sagen. Doch gleichzeitig war da auch die dominante Machtposition des Westens, die uns im Osten den Status des "Anschlußgebietes" zugestand, was in meinen Ohren wie "Protektorat Böhmen und Mähren" klingt. Ich möchte das an einem Beispiel festmachen: Man hat den 3. statt des 9. Oktobers zum "Tag der deutschen Einheit" gemacht. Der 3. Oktober aber bedeutet uns nichts, der 9. dagegen war der Tag der friedlichen Revolution. Herr Dr. Kohl ist Historiker und wußte all das. Man hat den 9. Oktober weggetreten, weil er unser "Kapital" ist, ja ein neues Deutschland signalisierte.

War die Revolution in der DDR also auch eine Gefahr für den Westen?

Führer: Sicher, denn da waren ja plötzlich Dinge außer Kraft, die sonst zu den stabilen Erhaltern der Macht zählen, wie Armee, Geld und Wirtschaft. Das wirkt auch für die Politiker im Westen verstörend. Sie wollten ganz schnell wieder, wenn auch westliche, stabile Verhältnisse im Sinne der Macht.

Haben die Deutschen in der DDR ein bleibendes Minderwertigkeitsgefühl aus den März-Wahlen davongetragen, weil ihre erste eigene demokratische Vertretung gleich der Abwicklung diente?

Führer:Das glaube ich nicht. Die Menschen sind eher durch 40 Jahre politische Entmündigung in der DDR geschädigt worden.

Der großdeutsche Traum von 1848 beinhaltete Österreich, einen demokratischen Grundrechtekatalog und eine Einigung des Reiches in Frieden. Bedauern Sie das aus diesem Traum des letzten Jahrhunderts nichts geworden ist?

Führer: Die Einigungen des Vaterlandes waren ja immer auf falschem Wege, nämlich durch Kriege zustande gekommen und trugen den Keim der Vernichtung in sich. Dagegen ist die Einheit unseres Volkes diesmal im Geiste Jesu' der Gewaltlosigkeit von den Menschen auf der Straße erstritten worden und damit ein Novum unserer deutschen Geschichte und eine Chance für das dritte Jahrtausend.

Ein Geschenk Gottes?

Führer: Ja, für das wir Dankbarkeit zeigen und aus dem wir Mut zum Handeln schöpfen sollten

 

Christian Führer, 57, studierte Theologie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. 1980 wurde er an die Nikolaikirche zu Leipzig berufen. Seit 1982 führte er montags regelmäßig Friedensgebete durch und arbeitete mit "Randgruppen" der DDR-Gesellschaft wie Ausreisewilligen und Arbeitslosen. Die "Montagsgebete" waren Ausgangspunkt der Leipziger Montagsdemonstrationen. 1991 nahm er in Stellvertretung für die friedlichen Demonstranten des Herbstes 1989 den Theodor-Heuß-Preis entgegen.

 

Das Wahlergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990: Allianz für Deutschland (CDU, DSU, Demokratischer Aufbruch): 47,8 Prozent; SPD: 21,8 Prozent; PDS: 16,3 Prozent; Bund freier Demokraten (FDP, LDP, Deutsche Forumspartei): 5,3 Prozent; Bündnis’90 (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative für Frieden und Menschenrechte): 2,9 Prozent

 

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