© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/00 24. März 2000

 
Demonstrieren in Berlin: Jeden Tag eine kleine demokratische Loveparade in der Hauptstadt
"Keine Extrawurst für Kohl!"
Moritz Schwarz

Samstag Mittag, der Wochenendeinkauf kühlt bereits im Eisschrank, die Sonne scheint, Frühlingsbeginn. Der Schwabe, der in Berlin dem sich samstäglich einstellenden Kehrwochenreflex nicht nachkommen kann, fragt sich, was tun mit dem freien Tag? Charlottenburg, Sansousci, Grunewald? Ach, die Sehenswürdigkeiten sind alle schon besucht, der Reiseführer ganz zerlesen. Einen Film sehen? Doch seit Kinos Zwingburgen gleichen, mit im Keller verbunkerten Vorführsälen, und Massenabfertigung wie einst an der innerdeutschen Grenze, erinnert der Gedanke an einem so frischen Tag an Edgar Allen Poe: Lebendig begraben.

In Zeiten des Vergnügungsüberangebotes sprießen aus Langeweile am organisierten Freizeitspaß Sumpfblüten der besonderen Art. Aus den USA kommen so bizarre Methoden des Zeitvertreibs, wie Cocooning ( exzessives zuhause rumlümmeln) oder das Trittbretttherapieren Gesunder in Selbsthilfegruppen für Gestörte, Gescheiterte und Gezeichnete.

In Berlin aber könnte man sich als neusten Trend das Schwarzdemonstrieren denken. Innerlich unbeteiligt, äußerlich völlig betroffen reiht man sich ein in die marschierenden Kolonnen, gleich für was, dabeisein ist alles. Der Genießer hat am Wochenende die freie Wahl, denn seit die Spreemetropole wieder Deutschlands Hauptstadt ist, stauen sich die Demonstrationsvorhaben vor allem um das Brandenburger Tor herum. Der Senat, getrieben von den allmächtigen Autofahrern, erwägt inzwischen gar die Notbremse zu ziehen und den Pariser Platz zum entmilitarisierten Gebiet für Transparente, Fahnen und Megaphone zu erklären.

Ob mit der NPD durchs Brandenburger Tor, wie Opa anno '33, oder unter roten Fahnen und geballten Fäusten ans Grab zu Karl und Rosa, ob im Sternmarsch für kostenlosen Zahnersatz oder für die Gleichstellung von Kreuz-und-Quer-Sexuellen mit der in Abschaffung befindlichen Ehe, hier findet sich für jeden ein Märschchen, die Fahne hoch und los.

Wir entscheiden uns an diesem Wochenende für die Umbennenungs-Demo des "Platzes vor dem Brandenburger Tor" in "Platz des 18. März". Zum einen wegen des ehrenvollen Anliegens, zum anderen wegen des putzigen "Keks-und-Schokolade"-Effektes, hier gibts zwei in einem, denn keiner weiß so recht, ob es sich um eine linke oder eine rechte Demo handelt. So denkt sich jeder seins.

Doch bald entpuppt sich die Demo sowieso als echter Heuler, denn statt Barrikadenkampf-Atmosphäre wie anno '48, gibts Edellangweiler wie Wolfgang Thierse und Hanna Laurin. – Nein, dann lieber fahnenflüchtig im wahrsten Sinne des Wortes, ins Cafe und neu geplant. Jawoll, zum Glück steht noch ein echtes Freak-Feature auf dem Programm: Knapp zweihundert Empörte besuchen heute noch Helmut Kohl zu Hause. Wie nett, hat das doch seit Christoph Schlingensief am Wolfgangssee und der Staatsanwaltschaft in letzter Zeit niemand mehr gemacht.

Doch kommen sie nicht in Frieden, sondern um ihm die Ereigniskarte zu zeigen: "Gehen Sie in das Gefängnis. Gehen Sie direkt dahin. Gehen Sie nicht über Los ..." Tatsächlich merkt man gleich den Qualitätsunterschied: Da der Kartätschenprinz 1848 den Liberalen das Demonstrieren ausgetrieben hat, kann die formlose Veranstaltung vom Brandenburger Tor in keinsterweise mit dem Bauernkriegs-Aufzug zur Kohlernte mithalten. Hier führen altlinke Berufsdemonstraten im zweiten Frühling (endlich wieder eine Demo gegen Kohl) das Regiment. Hier wird eingepeitscht, ordentlich skandiert und Bert Brecht gesungen.

Doch haben sie, statt nur in der Mottenkiste, auch im Internet gekramt und sich das Motto " www.kohlvorgericht.de " einfallen lassen (Hut ab). Und letzlich hat man auch mit Meret und Ben Becker echte Stars zu bieten die es sonst nur im Kino gibt. Unerkannt und meinungslos skandieren wir schwarz: "Keine Extrawurst für Kohl!"

Fürwahr ein gelungener Nachmittag. Das bietet nur Berlin. Und nächste Woche üben wir das "Bäumchen-wechsel-dich-Spiel", den unauffälligen Wechseln von einer Demo in die andere, schließlich von der Demo in die Gegen-Demo.

Echt vogelig das Freizeitverhalten gelangweilter Großstädter zur Demonstrationszeit. Demnächst dann auch die Demo gegen das dauernde Demonstrieren und langsam aber sicher stellt sich die fundamentale Mentalität des Mecker-Schlumpfes ein: "Ich bin dafür, daß wir dagegen sind!" Vielleicht sollten wir nächste Woche doch ganz einfach nur schwimmen gehen.


 
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