© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
Stasi: Wie sich die DDR-Staatssicherheit in einem Postamt einnistete
Millionenschwere Westbriefe
Werner H. Krause

Kaum jemand, der im letzten Jahrzehnt des Bestehens der DDR seine Schritte in das Berliner Postamt am Nordbahnhof lenkte, ahnte auch nur im geringsten, daß er soeben eines der geheimsten Überwachungszentren des Ministeriums für Staatssicherheit betreten hatte. Viele, die in diesem Briefverteilungsamt 10 die Postuniformen trugen, hatten nur insofern etwas mit der Briefabfertigung zu tun, als daß sie die ein- und ausgehenden Postsendungen nach verwertbaren Informationen unter die Lupe nahmen.

Das konspirative Objekt "Anton" stellte für die Stasi von dem Moment an ein besonderes Objekt der Begierde dar, als ein großer Teil der Kurierpost aus den in Berlin ansässigen Botschaften über dieses Postamt seinen Weg nahm. Das belegen Dokumente, die jetzt bei der Gauck-Behörde aufgefunden wurden.

Verhältnismäßig spät waren MfS-Offiziere dahinter gekommen, was für einen vorzüglichen Beobachtungsposten das Gebäude am Nordbahnhof abgab. Es bot von seinem fünften Geschoß aus einen weiten Einblick in das West-Berliner Stadtgebiet. Ferner existierte ein zwar verschütteter, unterirdischer Gang zum Gelände des Nordbahnhofs. Außerdem gab es dort einen Parkplatz, den mit Vorliebe Besucher benutzten, die über den Grenzübergang Invalidenstraße in die DDR eingereist waren.

So bemächtigte sich die Stasi des Postamtes gewissermaßen in einem kalten Handstreich. Der damit beauftragte Oberleutnant Wollert diktierte einen Befehl für eine sogenannte operative Sicherungsgruppe. Darin hieß es unter anderem, daß es einen konspirativen Kampfauftrag zu erfüllen gelte, der bei allen Beteiligten tschekistische Eigenschaften voraussetze.

Mit Waffen, Munition, Fernsprechgerät, Fotoapparaten und Signallampen traten die neuen "Postleute" ihren Dienst für das sozialistische Vaterland an. Anstelle des bisherigen Leiters des Postamtes schlüpfte ein Offizier in besonderem Einsatz (OibE) nunmehr in die Uniform eines Oberpostrats. Es begann der fieberhafte Einbau spezieller Überwachungselektronik. Alles mußte vom feinsten sein. Beschaffer Schalck bekam zu tun. Eine Fernbeobachtungsanlage wurde errichtet. Sie erlaubte es, relevante visuelle Informationen aus West-Berlin mikroskopisch klein heranzuholen, dann zu vergrößern und auf einem Bildschirm zur Auswertung weiterzuleiten.

Da man sich bei diesen geheimdienstlichen Aktivitäten partout nicht in die Karten blicken lassen wollte, wurde auch eine Überwachung der umliegenden Wohnhäuser nahe des Nordbahnhofs angeordnet. Insgesamt 469 Personen wurden von der Stasi regelrecht katalogisiert. Man listete mit Akribie auf, welche Personen Kontakt zu Ausländern unterhielten, wer mit West-Berlinern oder westdeutschen Bürgern enger befreundet war, wessen Familienangehörige illegal die DDR verlassen hatten und wer die Absicht hegte, zum Klassenfeind überzusiedeln.

Auch im Postamt selbst wurde ein breites Spitzelnetz aufgezogen. So standen dem Stasi-Major "Andree" die IM "Richard", "Rosi2, "Hans", "Amanda", "Irene" und viele weitere beflissen zur Seite, um vor allem Arbeitskollegen anzuschwärzen.

Tagtäglich betätigte sich im Postamt eine Kontrollgruppe der Stasi, die sämtliche Postsendungen observierte. Besonders makaber gestaltete sich die tägliche gemeinsame Einnahme des Mittagessens im Speisesaal des Postamtes – da saßen dann Postler, verkleidete Postler sowie Postler im Zuträgerdienst beisammen.

Das Postamt am Nordbahnhof war für die Stasi im wahrsten Sinne des Wortes Gold Wert. Einer der Offiziere stellte in einem "Sachstandsbericht" fest: Jährlich flössen auf postalischem Wege bedeutende Mengen Valuta in die DDR. Von jeweils 100 Briefen enthielten durchschnittlich zwei Sendungen beträchtliche Geldsummen. Allein auf solche Weise nähmen etwa zehn Millionen DM den Beförderungsweg über das Postamt am Nordbahnhof.

Ehe sich die Stasi ans Werk machte, entlarvte sie erst einmal sieben Spitzbuben unter den Postlern, die 605 Pakete beraubt und 2.389 Briefe gefleddert hatten. Während das Stadtbezirksgericht Lichtenberg die Bösewichte verdonnerte, übernahm nunmehr die "Elite der Staatsmacht" die "Auswertung" der Briefe. So trug man am Nordbahnhof dazu bei, daß von 1984 bis 1989 DDR-weit aus Westbriefen Geldscheine in Höhe von mehr als 32 MillionenDM entnommen und der DDR-Staatskasse zugeführt wurden.

Doch dann kam ein überraschender Befehl, der den Stasi-Leuten am Nordbahnhof Einhalt gebot. Im MfS war man nämlich darauf gekommen, daß die ständige Geldentnahme sogar zu einem Versiegen der Quelle führen könnte. Da der Staat jedoch nach Devisen lechzte, wurde jetzt der operativen Sicherungsgruppe eine wahre Schwerstarbeit aufgebürdet. Briefe aus dem Westen mit Geldinhalt mußten nunmehr ausgesondert und in einer weiteren Kontrollstelle besonders gesichtet werden.

So kam es, daß sich die Stasi-Leute sogar als "ehrliche Postler" betätigten und dafür Sorge trugen, daß der Nachschub an Devisen zum Einkauf in den Intershop-Läden für viele Bürger nicht ausblieb. Am 22. Dezember 1989 schloß Stasi-Offizier Löb den Bericht über "Anton" mit dem schriftlichen Vermerk: "Ohne Perspektive".


 
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