© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
Rußland: Bei den Präsidentschaftswahlen gab es keine Überraschung
Putin will Stärke zeigen
Wolfgang Seiffert

Westliche Medien wußten es wieder einmal schon vorher – die Präsidentenwahlen am 26. März in Rußland sind entweder "Wahlen ohne Wahlen" oder überhaupt nur ein "Volksentscheid", bei dem der Sieger von vornherein feststeht: Wladimir Wladimirowitsch Putin, dessen kometenhafter Aufstieg am politischen Sternenhimmel Rußlands noch immer rätselhaft erscheint.

Tatsächlich konnte am Wahlsieg Putins kein Zweifel bestehen. Alle Umfragen zeigten ihn an der Spitze der insgesamt elf Kandidaten, von denen nur zwei ernsthafte Chancen hatten: Putin und der KP-Chef Sjuganow. Die Chancen des letzteren beschränkten sich allerdings auf die nicht sehr wahrscheinliche Möglichkeit, daß im ersten Wahlgang Putin unter der erforderlichen absoluten Mehrheit geblieben wäre und dann ein zweiter Wahlgang hätte stattfinden müssen: Putin gegen Sjuganow. Doch auch dazu kam es nicht. Putin errang bereits im ersten Wahlgang mit 52,52 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit und ist damit für die nächsten vier Jahre der gewählte Präsident Rußlands. Für vier Jahre? Vielleicht auch für mehr. Denn Putin kündigte an, daß er nach den Wahlen eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten auf sieben Jahre vorschlagen werde. Da dies erst für die Wahl 2004 gelten kann, Putin aber Chancen hat, dann wiedergewählt zu werden, hieße der russische Präsident möglicherweise bis zum Jahre 2011 Putin.

Daß seine Wahl im Rahmen der geltenden russischen Verfassungs- und Rechtsordnung verlief, bezweifelt niemand. Bleibt nur die Frage: Wie konnte dieser vor kurzem noch weithin unbekannte Mann aus St. Petersburg dieses schaffen? Die in den westlichen Medien weitverbreitete These, seine Popularität verdanke Putin dem Tschetschenienkrieg, greift schon deshalb zu kurz, weil die Kämpfe in Tschetschenien auch zu den Wahlen noch keineswegs beendet waren, auch wenn Putin telegen fünf Tage vor der Wahl mit einem Kampfflugzeug – hinter dem Piloten auf dem Platz eines Waffensystemoffiziers – in Grosny landete.

Der Hauptgrund liegt wohl darin, daß Putin der Mehrheit der Russen das Gefühl vermitteln konnte, mit ihm stehe ein Mann aus dem Volk an der Spitze des Landes, der – wie sie – auch wolle, daß in Rußland Recht und Ordnung herrscht, daß Rußland wieder eine Großmacht sei, die Respekt und Anerkennung findet, daß der Präsident des Landes die Interessen Rußlands mit Würde und Energie vertritt. Gerade diesen starken Mann aber sahen sie in Putin und seinem energischen Auftreten bei dem militärischen Vorgehen in Tschetschenien und der Wahrung der russischen Position gegenüber der Kritik des Westens. Daß der 47jährige, sportlich gestählte, fließend Deutsch sprechende Putin sich mit diesen Unterschieden zu seinem kranken Vorgänger viele Sympathien errang, versteht sich von selbst.

Wie immer kommen die Probleme erst nach der gewonnenen Wahl. Als Gorbatschow 1985 zum Generalsekretär der damals noch mächtigen KP gewählt wurde, sagte Außenminister Andrej Gromyko, der ihm zur Wahl verholfen hatte: "Der Mann ist gewählt – das Programm nicht." Putin hat es vermieden, überhaupt ein Programm formell zur Abstimmung zu stellen. Doch seine programmatischen Äußerungen machen zumindest zweierlei deutlich: Putin will einen starken Staat, und er huldigt geistig der sogenannten "russischen Idee", die er in neuer Weise mit den allgemein-menschlichen Werten zur "neuen russischen Idee" verbinden will. Diese "neue russische Idee" besagt, daß Rußland wegen seiner besonderen geopolitischen Lage zwischen Europa und Asien eine spezifische Staatlichkeit habe; zu ihr gehört das Bewußtsein, eine Großmacht zu sein, welche die Mission habe, die Völker des russischen Reiches aufzuklären und zu zivilisieren. Sie findet heute in der eurasischen Ausprägung ihren Niederschlag. Rußland müsse seinem geschichtlichen Werdegang des "Sammelns" des euro-asiatischen Machtstaates auch heute treu bleiben.

Das Bekenntnis Putins zu der "neuen russischen Idee" dürfte als geistige Grundlage für den Weg gemeint sein, den Rußland nach Jelzin zu gehen habe. Rußland kehrt sozusagen zu sich selbst zurück. Dies bedeutet keine selbstgewählte Isolierung. Rußland will vielmehr in der internationalen Arena eine größere Rolle spielen als in der letzten Zeit. Es bedeutet auch keinen Rückfall in die Planwirtschaft. Das stärkere Eingreifen des Staates in die Wirtschaft soll gerade den Umbruch der russischen Wirtschaft zur Hochtechnologie fördern und die Positionen Rußland in der Weltwirtschaft verbessern. Doch: "Wir müssen uns klar werden, was wir wollen – das Land zwischen Schwarzem Meer und kaspischem Meer behalten? Oder Auslandskredite? In diesem Fall entscheiden wir uns für den Landerhalt." So Putin.

Das alles hat sicher seine außenpolitischen Konsequenzen. Die Staatsräson des Putinischen Rußlands ist es jedenfalls nicht, eine Konfrontation mit dem Westen zu vermeiden, auch wenn Putin sie nicht will. Vielleicht kann man als Faustregel künftiger Außenpolitik Rußlands formulieren: Jede Zusammenarbeit mit dem Westen ist möglich, die das russische Ziel eines eurasischen Kontinents, dessen Herz Rußland ist, fördert oder wenigstens nicht stört. Wenn dies ohne Konfrontation mit dem Westen geschieht, um so besser; wenn es sogar mit Kooperation mit dem Westen auf wirtschaftlichem Gebiet erfolgt, noch besser.

Aber ein Abweichen von dem russischen Allgemeininteresse wird es nicht geben. Die Erfahrung der letzten zehn Jahre mit der westlichen Rußlandpolitik stimmen nicht gerade optimistisch, daß der Westen rechtzeitig begreift, daß er es mit einem neuen Rußland zu tun hat. Wer glaubt, Rußland belehren zu können, wer Rußland nur als Objekt behandelt, aber "vergißt", daß es sich um ein selbständig denkendes und handelndes Subjekt handelt, wird bald merken, daß er sich getäuscht hat.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert, Jahrgang 1926, Jurist, war Institutsleiter in der DDR. Von 1978 bis 1994 lehrte er an der Uni Kiel. Heute ist er Chef des Instituts für Deutsches Recht in Moskau.


 
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