© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
Der Staat sind wir
von Lennart Meri

Wie schon in der Vergangenheit stehen wir Esten heute wieder vor Herausforderungen aus dem Osten wie aus dem Westen – und schließlich vor Herausforderungen, die aus unserer eigenen Mitte kommen. Aber Estland ist nicht nur zum bloßen Überleben fähig. Wir sind imstande, Kräfte zu überwinden, die um vieles größer sind als wir selbst.

Im Osten beobachten wir mit Bedauern die Wiedergeburt des russischen Chauvinismus und der Bereitschaft, grundlegende Menschenrechte im Namen der Macht zu opfern. Wir sehen Politiker und Militärs am Werk, die ihre eigenen Gesetze und alle Bestimmungen des Völkerrechts verletzen.

Im Westen sehen wir Mächte am Werk, die bereit sind, scharfe Worte gegen Österreich zu richten. Estland könnte dies sogar unterstützen, unter der Bedingung, daß man die gleichen moralischen Forderungen auch an den Osten stellt. Die Anwendung unterschiedlicher ethischer Normen für Ost und West gibt Anlaß zu ernsthafter Besorgnis und erinnert mich an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Aber wo ist das Kind, das laut ausruft: "Der König ist nackt?"

Ich spüre den seelischen Zustand Estlands: die harte Arbeit der Wiederherstellung unseres eigenen Staates liegt nun hinter uns, und man könnte meinen, jetzt sei die Zeit für sorglose soziale Vergnügungen gekommen. Die nationale Verteidigung – dieses lästige Ärgernis – könnte man gewissermaßen privatisieren, und den Staat könnte man sich selber überlassen, auf daß er mit der Strömung einer liberalen Marktwirtschaft segle.

Zum Glück ist dies nur die Meinung einer lautstarken Minderheit. Denn wir können nicht von oben auf den Staat herabsehen, ohne daß wir auf uns selbst und auf unsere Eltern herabsehen – auf all jene Zehntausende, die ihr Leben für Estland geopfert haben – und ohne auch auf unsere eigenen Leiden und Opfer herabzusehen – oder auch auf unsere Errungenschaften, auf die wir stolz sein sollten.

Vor zehn Jahren wählten wir den Estnischen Volkskongreß. Das war die größte Bürgerinitiative des estnischen Volkes. Sie überzeugte die Welt – und vor allem uns selbst –, daß die schöpferische Kraft einer Nation, welche reif für die Unabhängigkeit ist, bei erster sich bietender Gelegenheit den Weg zur Erreichung ihrer Unabhängigkeit oder zur Wiedergewinnung der verlorenen Unabhängigkeit finden wird. Wir waren stark, weil wir uns auf die Wahrheit verließen. Die Wahrheit hat eine befreiende Kraft. Damals hatten wir eine einzige Wahrheit, die uns gemeinsam zu unserem höchsten Ziel führte. Am Tage, als der Estnische Volkskongreß gewählt wurde, wußten wir noch keine Antwort auf die Frage, wie unsere Beziehungen zu den benachbarten Ländern aussehen sollten, was aus den ausländischen Truppen in Estland werden sollte, wie sich unser Verhältnis zur Europäischen Union, zur verfassungsmäßigen Ordnung der Vorkriegszeit oder zu den internationalen Verträgen gestalten sollte. Alle diese Fragen wurden einem einzigen Ziel untergeordnet: die verfassungsmäßige Ordnung in Estland so schnell wie möglich und mit möglichst geringen Opfern wiederherzustellen. Wir hatte nämlich bereits für die Wiederherstellung der Republik Estland größere Opfer bringen müssen als während unseres Unabhängigkeitskrieges (1918– 1920). Da gab es jene, die in den sowjetischen Lagern starben, jene, die in den Wäldern ihr Leben ließen, und jene, die – als Ergebnis der Deportationen – ohne Familie, ohne Liebe und ohne Ausbildung aufwachsen mußten. Wir vollendeten das Werk und stellten die Republik Estland ohne Blutvergießen wieder her. Die Welt war erstaunt, aber wir waren nicht im geringsten überrascht.

Und dennoch ist es heute an der Zeit, die Frage zu stellen: Warum verlangsamen sich unsere Schritte? Eine falsche Antwort lautet: Vor zehn Jahren fiel es leicht, sich auf ein einziges Ziel zu konzentrieren, das uns alle vereinte. Nun hat die Republik Estland Dutzende von verschiedenen Verpflichtungen, und wir könnten und sollten nicht wie ein einziger Mann an diese herangehen. Das ist scheinbar richtig – und in der Substanz dennoch falsch.

Denn das Recht auf Selbstbestimmung kann nur einmal verwirklicht und ein Staat nur einmal gegründet werden – ein für allemal. Deshalb sollte man sich in der heutigen erbarmungslosen Welt bewußt sein, daß der Staat eine dauerhafte Größe ist und daß er nur dann ein Dach über unseren Köpfen sein kann, wenn wir ihn wie eine pflichtbewußte, liebende Mutter pflegen, die ihren Kopf erhoben hält, die arbeitet und für das Haus Sorge trägt. In jedem parlamentarischen Akt, in der Anwendung jedes Gesetzes sehen wir immer noch die zentrale Aufgabe: die dauerhafte Existenz des Staates und des Volkes zu sichern.

So wende ich mich den Bedrohungen zu, die weder aus dem Osten noch aus dem Westen, sondern aus unserer eigenen Mitte kommen. Liberales und weltoffenes Denken bedeutet nicht Chaos. Die Menschen sehnen sich nach Sicherheit, sowohl nach innen wie nach außen. Es ist unser Ziel, uns der Europäischen Union und der Nato anzuschließen, bevor es zu spät ist. Wir sollten jeden Tag unseren Blick auf dieses Ziel richten. Die sowjetische Denkweise ist in Estland noch immer lebendig, und es ist paradox, daß sie in einer pseudo-europäischen Haltung ihren Bundesgenossen gefunden hat. Wo ist die estnische Denkweise, die man als analytisch und skeptisch zu bezeichnen pflegte? Das ist es, was Europa von uns erwartet. Europa erwartete nicht, daß Estland auf deutsche, französische oder belgische Weise denkt, sondern auf unsere eigene estnische Weise. Denn die Stärke Europas liegt im Zusammenwirken verschiedener Denkweisen. Europa braucht keine estnische Coca-Cola, die bei uns in Flaschen abgefüllt wird. Es braucht die estnische Kreativität, die sich nur in Estland entwickeln kann. Der estnische Staat kann wirksam funktionieren, wenn er imstande ist, die Interessen der Gesellschaft aus den Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen herauszudestillieren und sie mit seiner Macht zu schützen. Die gemeinsamen Interessen werden durch Parlament und Regierung repräsentiert.

Schätzen wir die Arbeit des estnischen Volkes? Unter normalen Umständen stellt die Ungleichkeit der Einkommen einen kraftvollen Motor des Kapitalismus dar. Aber wenn die Kluft ungerechtfertigt groß ist, wird sie zur Hemmnis. Die Arbeitslosigkeit hat sich erhöht, während es gleichzeitig in einigen Berufszweigen Mangel an Arbeitskräften gibt. Einige Berufe sind über- und einige unterbezahlt. Oft besteht keine Verhältnismäßigkeit zwischen Arbeitsleistung und Entlohnung. Das estnische Volk ist von Natur aus arbeitsam. Es ist fähig und willens zu arbeiten.

Durch äußere Umstände wurde in Estland die regierende Elite mehrmals vollkommen ausgewechselt. Während der Wiederherstellung unserer Republik sind viele junge Leute auf hohe Posten gestellt worden. Viele von ihnen können von ihren jetzigen Positionen nicht mehr weiter vorrücken und ihre Ausbildung ist in vielen Fällen unvollständig. Die Universitätsabsolventen unter ihnen haben noch nach sowjetischen Lehrplänen studiert. Das genügt aber nicht für einen Durchbruch in Richtung EU oder Marktwirtschaft. Schritt für Schritt taucht eine Generation von Leuten mit internationaler Erfahrung auf, aber die Führungspositionen sind bereits besetzt. Unser Potential an Führungskräften wird so durch Stagnation bedroht. Unsere Politik schwebt in Gefahr, zum Werkzeug einer Generation auf Kosten früherer und kommender Generationen zu werden.

Wenn wir uns mit unseren wohlhabenden Nachbarn in den nordischen Ländern vergleichen, haben wir keinerlei Anlaß zu jubeln. Aber allein die Tatsache, daß wir uns mit Ländern vergleichen, die den höchsten Lebensstandard der Welt haben, und die Überlegung, wo wir vor zehn Jahren standen, setzt ein ermutigendes Signal. Das Ziel des Staates ist und bleibt, seinen Bürgern die Lebensqualität zu garantieren, und zwar auf einem Niveau, das ihren Erwartungen entspricht. Dies aber hängt vor allem von der Qualität unserer Arbeit ab und von unserer Fähigkeit, einen Durchbruch in den Weltmarkt zu erzielen.

Estland ist keine Hollywood-Kulisse, die von einer Ecke in die andere verschoben werden kann. Wir brauchen einen realistischen Sinn für die Vergangenheit und Zukunft, aber das wiederum setzt die Kenntnis der Vergangenheit Estlands und seiner Kultur voraus. Estland ist ein klar definiertes geographisches Ganzes, das seine geopolitischen Vorteile und Nachteile, seine Chancen und Risiken hat. Wir sollten lernen, die Chancen zu nutzen und die Risiken, wenn wir sie nicht vermeiden können, zu verringern. Als Staatsoberhaupt haben sowohl ich als auch meine Nachfolger die Verpflichtung, alles zu tun, um das Wohlergehen des estnischen Staates und Volkes, seiner Kultur und Sprache zu sichern, ferner die Verteidigung unseres Landes zu garantieren, unsere wirtschaftliche Stärke zu sichern und natürlich unser internationales Ansehen zu wahren.

Regierung und Staat sind keinesfalls synonym. Regierungen kommen und gehen, aber der Staat bleibt. Der Unterschied zwischen Staat und Regierung sollte besonders dann betont werden, wenn einige Regierungen dazu tendieren, eine arrogante, monopolistische Haltung zu entwickeln, wonach jene, die an der Macht sind, zu allem berechtigt seien. Die Regierung hat natürlich freie Hand, ihre Entscheidungen zu treffen, aber sie müssen sich auf die nationalen Interessen Estlands und auf Loyalität gegenüber dem Staat gründen.

Es gibt also drei Schlußfolgerungen: Erstens: der Mensch. Wir können die Aufgabe, unseren Staat aufzubauen, niemand anderem als uns selber anvertrauen, und wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen. Ich möchte das klar und vernehmlich allen Feiglingen und Zauderern sagen, deren "einmaliger Intellekt" sie irgendwie daran hindert, ihre Heimat zu verteidigen. Wir müssen aus der Geschichte, aus den Siegen und Mißerfolgen vergangener Zeiten lernen. Die allgemeine Wehrpflicht ist keine Zeitverschwendung. Die Unabhängigkeit des Landes und seine Werte wachsen einem durch den militärischen Dienst näher ans Herz. In diesem Jahr werden wir höhere Verteidigungsausgaben haben. Ich möchte den Politikern und Wählern danken, die diesen wichtigen Schritt beim Aufbau des Staates ermöglicht haben.

Zweitens: die Natur. Unsere natürliche Umwelt, die durch geringe Besiedlung bewahrt wurde, ist einmalig in Europa. Die Natur aber ist zerbrechlich und verwundbar – und wir könnten große und manchmal irreparable Fehler begehen, wenn wir nach schnellem Profit streben. Laßt uns Herren in unserem Lande sein – nicht rücksichtslose Kolonialisten, die ein ausgeplündertes Land hinter sich lassen.

Drittens: Gott. Natürlich gründet sich unser System auf die Marktwirtschaft, aber das heißt nicht, das alles andere ausgeschlossen ist. Damit der Staat als gesunder Organismus funktioniert und die nationale Sicherheit garantiert ist, brauchen wir etwas mehr. Der Geist des Kapitalismus muß ergänzt werden durch protestantische Ethik, wenn wir Max Weber an unsere Zusammenhänge anpassen wollen. Die Prinzipien der Marktwirtschaft müssen auf eine ehrliche und konservative Weise angewandt werden. Wir haben viel Entwurzelung aus den Zeiten des sowjetischen Kolonialismus geerbt – rücksichtsloses Benehmen im täglichen Leben, einschließlich des selbstbewußten und prahlerischem Auftretens der Wirtschaftsbosse.

Das alles wird nicht nur toleriert, sondern geradezu als Beispiel hingestellt. So etwas hat es früher in Estland nicht gegeben. Hier sehe ich eine große Aufgabe für unsere Kirche und den Religionsunterricht. Die Schule, aber natürlich auch das Elternhaus sollten unseren Kindern moralisches Verhalten lehren. Die Kirche, die in russischen Zeiten außerhalb des Gesetzes stand, hat ihre einflußreiche Stellung im Leben der Gesellschaft noch nicht wiederhergestellt. Noch muß sehr viel getan werden, um die spirituelle Qualität unserer Gesellschaft zu erhöhen. Der Mensch muß sich über seine primitiven Bedürfnisse erheben. Dasselbe gilt für die Gesellschaft, in der ein behutsames Bewahren der Werte an die Stelle einer Haltung treten sollte, die meint, daß man alles kaufen und verkaufen kann.

 

Lennart Meri, 71, ist Präsident der Republik Estland. Seine Rede zum estnischen Nationalfeiertag am 23. Februar wurde auszugsweise übersetzt von dem Osteuropa-Experten und JF-Autor Carl Gustaf Ströhm.


 
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