© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
"Regieren durch das Volk"
Hans Herbert von Arnim über die Entmachtung der Bürger durch die Parteien und die Bändigung der politischen Klasse
Moritz Schwarz

Herr Professor von Arnim, Ihr gerade erschienenes Buch zur Kritik an den Mißständen unseres politischen Systems trägt den Titel "Vom schönen Schein der Demokratie". Das klingt resigniert-ironisch, was wollen Sie mit diesem Unterton vermitteln?

Arnim: Da schwingt natürlich Ernüchterung mit, eine ehrliche Zustandsbeschreibung unserer Demokratie hört die politische Klasse nur ungern. Dort tendiert man dazu, so zu tun, als sei alles in Ordnung, und neigt gar dazu, Leute, die an die Wurzel gehende Kritik äußern, in die Ecke zu stellen.

Was heißt das?

Arnim: Man versucht die Kritiker moralisch auszugrenzen, nach dem Motto "So etwas sagt ein rechtschaffener Bürger nicht".

Was konkret wurde Ihnen vorgeworfen?

Arnim: Na, etwa Populismus. Mit solchen Schein- und Totschlageargumenten wird versucht, sich der Notwendigkeit zu entheben, auf die Kritik wirklich sachlich einzugehen.

Welche Kritik üben Sie denn?

Arnim: Demokratie ist – nach dem berühmten Wort Abraham Lincolns – Regieren durch das Volk und für das Volk. Regieren durch das Volk bedeutet: Einfluß des Volkes auf die Politik. Regieren für das Volk bedeutet: Politik muß im Interesse der Menschen gemacht werden. In Wahrheit aber haben die Bürger fast nichts zu sagen, und die Politik erledigt ihre "Hausaufgaben" nicht. Die großen Herausforderungen, denen sich die Gemeinschaft gegenüber sieht, verlangen umfassende Reformen, zu denen es aber bisher nicht, nicht in ausreichendem Umfang und schon gar nicht rechtzeitig gekommen ist. Wir haben – darin sind sich eigentlich fast alle einig – einen gewaltigen Reformstau, ja eine Reformblockade.

Können Sie diese Kritikpunkte verdeutlichen?

Arnim: Beim Punkt "Regierung durch das Volk" stellt sich das Problem folgendermaßen dar: Die Bürger werden nur alle vier oder fünf Jahre bei den Wahlen gefragt. Aber selbst dann haben sie viel weniger zu entscheiden, als es zunächst scheint. Wen die Parteigremien auf sicheren Listenplätzen nominiert haben, der kann sicher sein, ins Parlament zu kommen, lange bevor die eigentlichen Wahlen stattgefunden haben. Bei Bundestagswahlen gibt es zwar auch eine Erststimme, mit der im Wahlkreis gewählt wird. Tatsächlich ist aber auch hier oft gar nichts zu entscheiden. Zum Beispiel: Im Wahlkreis Ludwigshafen kandidierte bei der letzten Bundestagswahl Helmut Kohl gegen Doris Barnett (SPD). Zwar herrschte ein großes Wahlkampfgetöse, in Wahrheit aber waren beide Kandidaten durch gute Listenplätzen abgesichert, so daß auch der Verlierer – das war Helmut Kohl – von vornherein sicher sein konnte in den Bundestag einzurücken. Die Europa-Wahlen sind erst recht "Wahlen ohne Auswahl". So konnten beim letzten Mal etwa die ersten dreißig Kandidaten auf der SPD-Bundesliste schon vor der Wahl sicher sein, ins Europäische Parlament einzuziehen. Und so geschah es dann auch, obwohl die SPD viele Stimmen verlor. Aber auch auf Sach- und Programmfragen hat der Wähler wenig Einfluß. Ob eine bestimmte Partei die Regierung bildet, hängt in der Bundesrepublik wesentlich von Koalitionsvereinbarungen ab, die erst nach der Wahl getroffen werden. Oft lassen die Parteien die Wähler ganz bewußt über ihre Koalitionsabsichten im unklaren. So jetzt wieder in NRW, wo sich die SPD bedeckt hält, ob sie die Koalition mit den Grünen fortsetzt. Und wo sich die FDP ebenfalls alle Koalitionsoptionen offenhält – sofern sie überhaupt in den Landtag kommt. Der Einfluß der Wahlen auf das Sachprogramm der späteren Koalitionsregierung ist für die Wähler also kaum durchsichtig. Und die Transparenz und Zurechenbarkeit politischer Verantwortung nimmt noch weiter ab, weil der Bundesrat in letzter Zeit meist von der Opposition beherrscht wird, fast alle wichtigen Gesetze aber inzwischen seiner Zustimmung bedürfen. Gesetze kommen daher meist nur mit Zustimmung auch der Opposition zustande. Da kann der Wähler wählen, wen er will, das Ergebnis bleibt das gleiche. Der Punkt "Regierung für das Volk" bezieht sich auf die mangelnde Leistung der Politiker, die nicht gemachten "Hausaufgaben". Stichwort "Reformblockade": Grundlegende Reformen sind in zentralen Bereichen erforderlich, etwa in der Schul- und Hochschulpolitik, der Sicherung der Altersversorgung, insbesondere der Sozialversicherungsrentner, der Bereinigung des Steuerrechts und vor allem der erfolgreiche Bekämpfung des bundesrepublikanischen Hauptproblems: der Arbeitslosigkeit.

Mit der Verhinderung dieser Reformen gefährdet die etablierte politische Klasse die Zukunft Deutschlands?

Arnim: Nehmen wir das Beispiel Schul- und Hochschulpolitik, diesen Bereich, der noch weitgehend in der Gesetzgebungskompetenz der Ländern verblieben ist. Hier würde man eigentlich – und das ist ja der Sinn des Föderalismus – erwarten, daß jedes Land versucht, eigene gute Politik zu machen. Tatsächlich aber stimmen sie alles Wesentliche in der gemeinsamen Kultusministerkonferenz ab. Dort entscheidet man einstimmig. Mit der Folge, daß der langsamste Dampfer die Geschwindigkeit des Geschwaders bestimmt. Das ist das Gegenteil von Innovationsfreudigkeit. Verkrustung und Verhärtung sind die Folge. Wenn die einzelnen Länder doch nicht den Mut zu eigenen Entscheidungen besitzen, wäre es schon konsequenter, die Entscheidungsbefugnis gleich beim Bund zu zentralisieren. Das geschieht aber nicht, so daß auch hier die Zurechenbarkeit und damit die politische Verantwortlichkeit entfällt. Der Wähler bleibt vollends orientierungslos zurück. Schlimmer aber noch ist, daß die Politik den Anforderungen, die man an sie stellt, nicht gerecht wird. Beispiel Schulpolitik: 1997 gab es eine große international vergleichende Schuluntersuchung, die die Leistungen der Schüler in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften verglich. Ergebnis: Die Leistungen der deutschen Schüler waren niederschmetternd! Bezeichnend ist nun, wie die Kultusministerkonferenz darauf reagiert hat. Sie hat nicht etwa Alarm geschlagen, sondern die Ergebnisse weitgehend unter der Decke gehalten. Und dabei sind gerade Schule und Hochschule die allerwichtigsten Bereiche, wenn es um Zukunftssicherung geht.

Kann den etablierten Politikern das Gemeinwohl gleichgültig zu sein, weil sie von keiner Konkurrenz bedroht sind?

Arnim: Daß die systemischen Bedingungen der Politik sich so entwickelt haben, hängt ganz wesentlich mit den Eigeninteressen der politischen Klasse zusammen. Wir gehen in Sonntagsreden oder in der Verfassungstheorie davon aus, daß Amtsträger sich bei ihrem Handeln am Gemeinwohl orientieren. Tatsächlich aber sind die Eigeninteressen der Politiker ausgesprochen gewichtig, und in Kollision mit den Gemeininteressen setzen sie sich meist durch. Und wie das funktioniert, haben wir ja gerade kürzlich bei Helmut Kohl und Manfred Kanther gesehen, denen ihre Eigeninteressen an Macht, Sicherheit und Posten so wichtig waren, daß sie zu diesem Zweck sogar schwarze Kassen eingerichtet und über Jahrzehnte hinweg unterhalten haben.

Also behindert die etablierte politische Klasse unser demokratisches System nicht nur, sie deformiert es?

Arnim: Wenn Regierung und Opposition bezüglich ihrer Eigeninteressen am gleichen Strang ziehen, dann besteht die große Gefahr, daß sie die Regeln des Macht- und Statuserhaltes nach ihren übereinstimmenden Belangen ausrichten und sich schließlich das ganze System nach den Interessen der politischen Klasse entwickelt. So war es etwa in der Vergangenheit vielfach beim Wahlrecht. Weitere Beispiele finden sich in meinem Buch. Und genau diese Interessen wehren sich dann natürlich auch gegen notwendig werdende Reformen.

Was schlagen Sie vor, um unser System vor seinen etablierten Trägern zu schützen?

Arnim: Ich trete für die Änderung des Wahlrechts im Sinne eines angelsächsichen Mehrheitswahlrechts ein. Dazu wäre es in den sechziger Jahren auch beinahe gekommen. Alle waren sich damals einig. Bis dann die SPD aus machtpolitischen Gründen ausscherte, weil sie plötzlich eine Möglichkeit sah, mit der FDP, die eine Reform natürlich nicht wollte, die sozialliberale Koalition unter Brandt zu bilden. Eine andere Möglichkeit ist, am Verhältniswahlrecht festzuhalten, aber den Bürgern durch Kumulieren und Panaschieren (Häufen mehrerer Stimmen auf einen Listenkandidaten eigener Wahl und das Verteilen seiner Stimmen an Kandidaten auf verschiedenen Listen) zu ermöglichen, Kandidaten direkt auszuwählen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, daß auch Exekutivspitzen von den Wählern selbst ausgewählt werden sollten. Wir haben gute Erfahrungen mit der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten gemacht. Man sollte die Direktwahl auch auf die Ministerpräsidenten der Länder ausdehnen. Dann wäre uns etwa Glogowski erspart geblieben, denn der wäre in einer Direktwahl bestimmt nicht gewählt worden. Der zentrale Punkt ist, endlich die Entscheidung der Wähler darüber, wer sie vertreten soll, herzustellen. Das ist das mindeste in einem repräsentativen System.

Sind mehr Elemente direkter Demokratie notwendig, um die Politiker zu kontrollieren?

Arnim: Die Menschen sollten auch die Möglichkeit bekommen, gewisse Sachentscheidungen an sich zu ziehen, durch Volksbegehren und Volksentscheid. Das gibt es bereits in allen Gemeinden und in allen Ländern, wenn auch teilweise die formalen Vorraussetzungen dafür prohibitiv hoch sind. Gelänge es, das auf Bundesebene auszudehnen, so wäre es erleichtert, gewisse Strukturreformen des Systems, die die politische Klasse selbst gar nicht durchführen kann, durchzusetzen. So ist etwa die Direktwahl von Bürgermeistern in einigen Ländern nur per Volksbegehren und Volksentscheid oder durch glaubwürdiges Drohen damit eingeführt worden.

Birgt das Mehrheitswahlrecht nicht die Gefahr einer Zwei-Parteien-Herrschaft, die verhindert, daß wichtige neue Impulse in Form neuer kleiner Parteien korrigierend wirken?

Arnim: Ja, aber das ist doch gerade das Ziel, eine Zwei-Parteien-Herrschaft zu begründen, damit der Wähler klare Entscheidungen treffen kann und diese nicht durch Koalitionsvehandlungen völlig verwischt werden. Kleine Parteien würden dann von den großen aufgesogen und ihre Positionen in diesen zum Tragen kommen. Die Vorteile wiegen die Nachteile auf.

Besteht da nicht die Gefahr, daß sich langfiristig zwischen beiden Parteien ein Verteilungsfilz entwickelt wie in Österreich, wo sogar prominente bürgerliche Politiker den Sieg der FPÖ reumütig als Demokratisierung werten?

Arnim: Da wurde tatsächlich Ämterpatronage bis zum Geht-nicht-mehr getrieben. Das wurde aber eben genau im Windschatten eines starren Verhältniswahlrechtes getrieben, das verhinderte, daß die Verantwortung einzelnen Politikern noch zuzuordnen war.

Heizt eine solch scharfe, direkt gewählte Zwei-Parteien-Trennung nicht aber den Populismus der etablierten Politiker noch weiter an: noch mehr Täuschung, Verleumdung und falsche Versprechen vor den Wahlen?

Arnim: Na ja, jetzt haben Sie ja auch Populismus par excellence vor jeder Wahl. Ich glaube aber, daß die Bürger viel klüger sind, wenn sie endlich etwas zu sagen und zu entscheiden haben. Und das ist bisher eben nicht der Fall. Politiker, die reinen Wein einschenken, werden letztlich auch die Schätzung des Wählers erfahren. Bestes Beispiel ist der Bürgermeister von Offenbach, der mit einem harten Sparprogramm die Wahlen gewonnen hat, sogar wiedergewählt wurde, weil er die notwendigen Härten den Bürgern plausibel erklärt hat.

Genau das befindet die etablierte politische Klasse als überhaupt nicht nötig. Helmut Kohl schenkt noch nicht einmal reinen Wein ein, nachdem man ihn erwischt hat.

Arnim: Helmut Kohl hat das Transparenzgebot des Parteiengesetzes und des Grundgesetzes gebrochen. Das Transparenzgebot des Grundgesetzes ist unmittelbar verbindliches Recht! Ob er seinen Amtseid gebrochen hat, ist eine andere Frage. Denn er hat Verfassungs- und Parteiengesetz als Parteivorsitzender der CDU gebrochen, nicht als Bundeskanzler, auf dessen Amtsführung sich sein Eid bezog. Auf jeden Fall aber hätte er sich aber auch als Parteiführer an Grund- und Parteiengesetz halten müssen. Hier wird ihm Transparenz vorgeschrieben, das heißt, die Spenden zu nennen und bei Spenden über DM 20.000 auch die Spender mit Namen und Adresse.

Theodor Eschenburg sprach sich für eine gänzliche Abschaffung von Parteispenden aus, da in diesem Spendenwesen die Korruption institutionell angelegt sei. Ist das sinnvoll?

Arnim: Man muß unterscheiden zwischen Kleinspenden und Großspenden. Das eigentliche Problem sind ja letztere, große Konzerne stückeln oft ihre Spenden, zum Beispiel über juristisch selbständige Konzerntöchter, so bleibt etwa eine 100.000 Mark-Spende rechtlich unter der 20.000 Mark-Grenze. Das gilt als legal, ist aber bestimmt nicht im Sinne der Transparenz. Weiterhin fragt sich, warum dürfen diese juristschen Personen überhaupt spenden? Die können ja gar nicht wählen, warum sollen sie sich also durch Spenden an der politischen Willensbildung beteiligen dürfen?

Wie bewerten Sie die moralische Zerrüttung, die bei der Spendenaffäre sichtbar wurde, und wie kann so etwas künftig verhindert werden?

Arnim: Ich bin dafür, juristischen Personen das Spenden ganz zu verbieten und natürlichen Personen dies nur bis zu einem Höchstsatz zu erlauben. Sonst ist man leicht im Grenzbereich der Korruption. Das erschüttert das Vertrauen der Bürger in die Politik. Denn die Unehrlichkeit Kohls bedeutet nicht nur eine Parteikrise, sondern eine Demokratiekrise.

 

Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim geboren 1939 in Darmstadt. Seit 1981Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunal- und Haushaltsrecht, und Verfassungslehre in Speyer. 1968–78 Leiter des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler. 1993–1996 Mitglied des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg. 1993–1995 Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.

 

Literatur:

"Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung" (Droemer, München 2000);

"Diener vieler Herren. Die Doppel- und Dreifachversorgung von Politikern" (Knaur, München 1998);

"Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben" (Kindler, München 199);

"Demokratie ohne Volk" (Knaur, München 1993);

"Der Staat als Beute" (Knaur, München 1993)

 

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