© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Das "System Diepgen"
Berlins Kulturlandschaft steht vor Herausforderungen und Umbrüchen
Elvira Seidel

Der Rücktritt der Berliner Kultursenatorin Christa Thoben (CDU) wegen des Finanzdesasters in ihrem Ressort wird fast allseits als Befreiungsschlag empfunden. Nur einige ihrer Parteifreunde aus dem Berliner Landesverband haben mangelnde Standfestigkeit und Geduld als Rücktrittsgrund ausgemacht, brennende Strukturprobleme also in gewohnter Weise personalisiert. Die schnelle Berufung Christoph Stölzls (siehe Portrait auf Seite 3) zeigt das Bemühen der Berliner CDU, politische Normalität vorzutäuschen. Trotzdem sind der Schritt von Christa Thoben und die öffentliche Reaktion darauf bemerkenswert.

Erstens ist das Berliner "System Diepgen", die Politik des Moderierens, des Ausweichens und Beschwichtigens – das "System Kohl" in Kleinformat – am Ende. Aus einer Reihe von politischen und psychologischen Gründen war diese Politik zunächst unumgänglich. Die Teilung der Stadt hatte zur Verdoppelung ihrer Institutionen, der Universitäten, Theater, Opern- und Konzerthäuser geführt. Beide Teilstädte waren im "Kalten Krieg" als Schaufenster des jeweiligen Systems großzügig verwöhnt worden. Um soziale und politische Explosionen zu vermeiden, mußte der Abbau dieses Privilegiertenstatus auf die sanfte Tour stattfinden. Nur – stattfinden mußte er! Doch die Berliner Große Koalition verwechselt bis heute Mittel und Zweck. Thoben-Vorgänger und Diepgen-Freund Peter Radunski hat jahrelang die fehlende kulturpolitische Gestaltung – sei es die Profilbestimmung, sei es auch eine planvolle Schließung einiger der vielen Paralleleinrichtungen – durch finanzielle "Bemühungszusagen" verkleistert, in trauter Eintracht übrigens mit der SPD und der PDS, den beiden anderen Berliner Staatsparteien. Seine Politik hatte freilich auch ihre heuchlerische, brutale Seite: So wurde das Operetten-Theater "Metropol", dessen Lobby schwach war, durch Verfahrenstricks erdrosselt, ohne daß deshalb das böse Wort "Schließung" fallen mußte.

Die Frage ist, zweitens, ob Deutschland sich eine richtige Hauptstadt leisten will. Föderalismus hin, Kulturhoheit der Länder her: Berlin ist aus sich heraus nicht lebensfähig, nicht als Kommune, auch nicht als Bundesland. Gerade geschichtsbewußte Föderalisten wissen, daß Berlin nach 1945 seines Umlandes, das von Königsberg bis Aachen reichte, verlustig ging. Als Hauptstadt und einzige Metropole Deutschlands ist und bleibt es aber die Bühne für die Repräsentation des Landes auf kulturellem Gebiet. Der Bund muß deshalb zu einer angemessenen Finanzausstattung beitragen. Der Hohn von Kulturstaatssekretär Naumann ist fehl am Platze. Man fragt sich, wo denn die Anregungen und Konzepte Naumanns zum Thema "Kulturstadt Berlin" bleiben und welchen Zweck sein Amt überhaupt hat.

Drittens zeigt das Berliner Desaster den Schaden, den die Konzentration auf die unterhaltsame "Event"-Kultur anrichtet. Provinzpolitiker sonnen sich gern in massen- und medienwirksamen Großereignissen, gewähren hier einen Zuschuß, dort ein Steuerprivileg, melden sich gern mit großer Emphase zu Wort und glauben, damit den unsäglichen Kiez-Geruch von sich zu schütteln und als modern und weltläufig dazustehen. Unterdessen blutet die kulturelle Substanz, die langfristig das Ansehen und die geistige Atmosphäre einer Stadt prägt, seine Theater, Opern, Museen, Bibliotheken, zunehmend aus. In den großen Berliner Bibliotheken sind wichtige neue Fachbücher nicht mehr zu bekommen, weil das Geld zu ihrer Anschaffung fehlt. Damit verliert die Stadt allmählich ihren Rang als Wissenschaftsstandort. Doch so banale Fragen treten in der Berliner Politik zurück, deren Protagonisten sich lieber wochenlang mit der Frage beschäftigen, wieviel Faschismus denn in dem "Lichtdom"-Event steckte, das zu Silvester an der Siegessäule inszeniert wurde.

Viertens ist ein neues Verhältnis zum Sponsoring nötig. Der Staat darf sich keineswegs aus der Kulturfinanzierung zurückziehen, er kann sie aber nicht mehr zur Gänze tragen. Auch auf dem Gebiet der Kultur muß ein neues Gleichgewicht zwischen staatlicher Fürsorge und individuellem Engagement gefunden werden. Schluß also mit der hehren Lüge, daß Kunst nicht mit Geschäften zu tun haben darf! Sie hat es schon längst! Natürlich findet von vornherein eine soziale Selektion des Publikums statt – durch die Einrittspreise! Niemand wird behaupten, daß ein Premierenpublikum nur aus besonders glühenden Kunstanhängern besteht, es geht auch um die Demonstration und Mehrung von Prestige und Einfluß, von sozialem und gesellschaftlichem Kapital. Da ist es andererseits absurd, wenn Peter Dussmann, dem wichtigsten Kultursponsor Berlins, von der Kulturbürokratie verwehrt werden sollte, für eine bestimmte Opernproduktion zu spenden, und das Geld statt dessen zur Deckung des allgemeinen Defizits verwandt werden sollte, oder der PDS-Stadtbaurat von Berlin-Mitte die Aufstellung eines ebenfalls von Dussmann initiierten Heine-Denkmals verhindert: Es handelt sich übrigens um den Neuguß jenes Denkmals, das die SED-Oberen 1956 schon einmal zu Fall brachten, weil es ihnen zu wenig staatstragend erschien. Mit dieser unsäglichen Kiez-Mentalität wird die Kultur zusätzlich sabotiert.

Fünftens: Der größte Teil der Etats geht für Personalkosten drauf. Die aber sind durch überbetriebliche Tarifverträge festgelegt. Wenn man Theater- und Opernhäuser finanziell haftbar macht, muß man ihnen fairerweise bei der Verwaltung des Geldes und in Personalfragen größeren Spielraum lassen. Das ist schmerzhaft für viele Beschäftigten, aber zur Rettung der Institutionen unumgänglich. Vielleicht führt es sogar zu einem echten künstlerischen Wettbewerb zwischen den einzelnen Bühnen. Ein bißchen mehr Leistungsprinzip würde nicht schaden. Erbhöfe müßten abgegeben, Prestigeobjekte überprüft, Seilschaften abgeschnitten werden.

Sechstens werden die Kulturschaffenden und -konsumenten durch die aktuelle Diskussion daran erinnert, daß die Subventionen und Zuschüsse keine Selbstverständlichkeit sind. Und: Hängen die Kostenexplosionen nicht auch mit den Traumgehältern bestimmter Spitzenverdiener zusammen? Und sind diese bei ihrem Gehaltspoker nicht auch deshalb so erfolgreich, weil sich die Kommunen untereinander auf einen Prestigekampf eingelassen haben, in dem es nur noch darum geht, wer sich wen zu welchem Preis leisten kann? Diese auf Dauer selbstmörderische Spirale muß zum Stillstand kommen. Außerdem ist neu und grundsätzlich zu klären, warum eine moderne Gesellschaft sich als Kulturstaat verfassen muß, der auch eine nicht allen zugängliche Hochkultur hegt und pflegt. Vielleicht erinnert man sich einfach mal an die alten Zusammenhänge von Kunst und Kultus und daran, daß die Kunst zumindest in ihren Sternstunden alle denkbaren Wirklichkeits- und Bedeutungsschichten, zwischen denen sich der Mensch bewegt, die realen, normativen, utopischen, mythischen, archaischen usw. zu einer Einheit zusammenfügt, die er anderweitig längst nicht mehr erfahren kann.

Doch ob dem kultivierten Christoph Stölzl solche Einsichten in den Niederungen der Berliner Landespolitik etwas nützen? Es ist zu befürchten, daß das träge "System Diepgen" nicht nur sich selbst, sondern auch ihn überlebt.


 
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