© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Die Sonne schickt keine Rechnung
von Franz Alt

Vor zwölf Jahren bin ich aus der CDU ausgetreten, weil Helmut Kohl damals die These vertrat, Atomenergie sei moralisch vertretbar. Nun lese ich, die rot-grüne Bundesregierung gebe eine Hermes-Bürgschaft für die Lieferung deutscher Atom-Technologie nach China, Litauen und Argentinien.

Dieser Beschluß ist vielleicht ein Segen für Siemens, aber ein GAU für die Glaubwürdigkeit der Grünen. SPD und Grüne können ihre gesamte Ausstiegs-Diskussion vergessen, wenn sie als Regierungspartei den atomaren Groß-Einstieg in China unterstützen. Jedes Atomkraftwerk irgendwo auf der Welt ist eine Gefahr für die ganze Welt. Atommüll ist in China so wenig zu entsorgen wie in Deutschland. Die chinesische Regierung schafft heute ihren Atommüll weitgehend nach Tibet, hat mir der Dalai Lama mal in einem Fernsehinterview gesagt. Was würde wohl Petra Kelly zu einem rot-grünen Segen für ein Atomgeschäft in China zu Lasten Tibets sagen? Seit Tschernobyl, also seit 14 Jahren, ist der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland mehrheitsfähig. Und noch entschieden mehrheitsfähiger ist der Einstieg in erneuerbare Energien.

Eine Shell-Studie über Energie-Politik der Zukunft hat ergeben, daß 78 Prozent der jungen Deutschen auf die Frage, was die wichtigsten Zukunfts-Technologien seien, sagen: Technologien zum Gewinnen von erneuerbarer Energie. Erst danach nennen die jungen Deutschen unter 30 Jahren "Computer" und "Internet".

Warum aber ist bei der Überlebensfrage der Menschheit der Profit der Energie-Konzerne wichtiger als die Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger? Warum geht auch die jetzige Bundesregierung vor der Atomlobby in die Knie?

Seit acht Jahren gibt es mit den Stromversorgern sogenannte Konsens-Gespräche. Ergebnis: Null. So konnte vor einem halben Jahr einer der führenden deutschen Atomlobbyisten im Fernsehen frohgemut verkünden: "Deutsche Regierungen kommen und gehen, aber deutsche Atomkraftwerke bleiben bestehen." Die Konsens-Ideologie erweist sich, je länger an ihr festgehalten wird, als Nonsens-Politik. Es ist eben grundsätzlich unmöglich, mit der Metzgerinnung einen Konsens über die Einführung des Vegetarismus zu erreichen.

Die breite atomkritische Öffentlichkeit setzt auf ökologische Alternativen. Und das heißt konkret und praktisch: Schluß mit dem Theater der Konsens-Gespräche. Raus aus der selbstgestellten Konsens-Falle. Joschka Fischer und Jürgen Trittin: Lassen Sie sich nicht länger zu Sklaven von ergebnislosen Konsens-Gesprächen machen! Sie haben es lange genug versucht, aber nun ist hinlänglich bewiesen: Dieser Weg bringt keinen wirklichen Ausstieg. Sie sollten natürlich nicht das Ziel des Atomausstiegs aufgeben, wohl aber den bisherigen Weg. Die Alternative ist offensichtlich – und zwar ohne die Gefahr, Entschädigungen zu riskieren.

Machen Sie den weiteren Betrieb von Atomkraftwerken wirtschaftlich uninteressant. Gehen Sie dabei konsequent einen marktwirtschaftlichen Weg in vier Schritten: Besteuern Sie Atombrennstoffe realistisch entsprechend den fossilen Energien. Sorgen Sie dafür, daß auch Atomkraftwerke realistisch versichert werden müssen. Es ist doch nur recht und billig, daß ein Atomkraftwerk so realistisch versichert werden muß wie jeder Pkw. Das heißt: die Schadenshaftung bei Reaktorunfällen von gegenwärtig 500 Millionen Mark um das Zehnfache erhöhen – so wie es Fachleute schon lange empfehlen. In den USA wird ein AKW nach dem anderen geschlossen, weil bei entsprechender Versicherung Atomstrom zu teuer ist.

Verbinden Sie das Verbot der Wiederaufbereitung mit der Auflage und der praktischen Bereitstellung von Zwischenlager-Kapazitäten und bereiten Sie den Weg für die Wettbewerbsgleichheit im Strommarkt. Das heißt: Die 70 Milliarden Mark Entsorgungsrückstellungen der Atomwirtschaft müssen in einem Fonds deponiert werden, damit sie nicht länger zweckentfremdet werden können für den Einkauf bei allen möglichen Branchen, sondern für die spätere Entsorgung zur Verfügung bleiben. Die Atomwirtschaft darf nicht länger Staat im Staate sein. Gegen das Wegnehmen dieser einmaligen wirtschaftlichen Privilegien kann kein Mensch mit Aussicht auf Erfolg klagen.

Ich habe Michail Gorbatschow in einer Fernsehsendung gefragt, was der GAU in Tschernobyl die russische Volkswirtschaft insgesamt gekostet habe. Er sagte, etwa 500 Milliarden Mark. Das ist 1.000mal mehr als die derzeitige Versicherungssumme eines deutschen Atomkraftwerkes.

Die vorgeschlagenen vier Schritte bedeuten, daß Atomstrom nicht länger zu einem privilegierten Preis, sondern zu einem realistischen marktwirtschaftlichen Preis verkauft wird; das wäre dann mittelfristig etwa eine Mark pro Kilowattstunde.

Es kann sein, daß über diesen Weg die Abschaltung des ersten AKW etwas länger dauern würde als bisher vermutet. Aber insgesamt hätten die deutschen Atomkraftwerke weder eine Laufzeit von 35 Jahren, wie es die Atomwirtschaft will, noch von 30 Jahren, wie es die Bundesregierung vorgeschlagen hat. Der Markt würde das Problem einer unverantwortlichen Atomenergie-Nutzung in den nächsten zehn Jahren regeln. Es wäre rasch Schluß mit der Atomenergie in Deutschland. Auch die glühendsten Anhänger der Atomenergie können die Existenz des atomaren Restrisikos nicht bestreiten. Wir haben es schon beinahe vergessen: Das atomare Restrisiko ist jenes Risiko, das uns jeden Tag den Rest geben kann. Muß wirklich erst der nächste GAU passieren, bis Atomkraftwerke endlich realistisch versichert werden?

Schon 1995 hat die Enquete-Kommission des Bundestags Zum Schutz der Erdatmosphäre errechnet, daß die Gefahr eines Kernschmelz-Unfalls in Deutschland bis zum Jahr 2010 1:100 beträgt. Das atomare Restrisiko ist höher als die Gefahr eines Flugzeugabsturzes. "Null Risiko" gibt es nicht!

Das 20. Jahrhundert ist durch zwei große atomare Katastrophen gekennzeichnet: Hiroshima und Tschernobyl. Die ethische Konsequenz für das 21. Jahrhundert müßte ein 11. Gebot sein – ein neues Gebot für das Atomzeitalter. Dieses 11. Gebot heißt: Du sollst den Kern nicht spalten; weder den Atomkern noch – in der Gentechnologie – den Zellkern.

Die Atomwirtschaft behauptet, schon aus Klimaschutzgründen bräuchten wir die Atomenergie, denn die fossilen Energieträger als Ersatz für die Atomenergie seien ja verantwortlich für den Treibhauseffekt! Dieses Argument ist schon deshalb nicht überzeugend, weil die Betreiber von Atomkraftwerken weitgehend identisch sind mit den Betreibern von fossilen Kraftwerken.

Die Alternativen zur Atomenergie sind natürlich nicht Kohle, Gas und Öl, sondern Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Erdwärme und Blockheizkraftwerke, die Strom und Wärme erzeugen, also die Energie doppelt nutzen. Es gibt überhaupt keinen Grund für mehr fossile Energieverbräuche, wenn wir auf Atomkraftwerke verzichten.

Fossile Energieträger können ebenso durch grüne Energie ersetzt werden wie Atomenergie. Ich muß doch nicht für die Pest sein, wenn ich mich gegen die Cholera entscheide. Wir brauchen keine halbe, sondern eine ganze Energiewende. Das heißt: in etwa 50 Jahren kann und muß alle Energie in Europa regenerativ erzeugt werden.

Viele Studien beweisen, daß die solare Energiewende in einem halben Jahrhundert zu 100 Prozent möglich ist, wenn wir gut sind im Energiesparen und in der Energie-Effizienz. Die Energiefrage ist der Schlüssel für eine gute oder eine schlechte Zukunft. Klaus Töpfer, jetzt oberster Umweltschützer der Welt, hat im Angesicht der Schreckensbilder aus Mosambik gesagt: "Was wir hier erleben, sind nur die Vorboten der Klimakatastrophe." Was in Mosambik passierte, ist eine ökologische Aggression, verursacht von den Industriestaaten. Das gleiche gilt für die Schäden durch den Sturm Lothar am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999: Zwei Milliarden Mark in 90 Minuten allein in Baden-Württemberg.

Wenn es heute abend bei uns in der ARD eine ökologisch realistische Tagesschau geben würde, dann müßten meine Hamburger Kolleginnen und Kollegen folgendes sagen: Auch heute wieder sind 100 Tier- und Pflanzenarten ausgestorben; haben wir 30.000 Hektar Wüste produziert; haben wir 86 Millionen Tonnen fruchtbaren Boden verloren; sind wir wieder eine Viertelmillion Menschen mehr geworden und haben 100 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Luft geblasen.

Wir verbrennen heute über Kohle, Gas, Öl und Benzin an einem Tag, was die Natur in 500.000 Tagen an diesen fossilen Rohstoffen geschaffen hat. Wir führen – hauptsächlich wegen unserer falschen Energiepolitik – einen Dritten Weltkrieg gegen die Natur.

Das machen wir, obwohl die Alternativen bekannt sind. Wir tun nicht, was wir wissen. Das ist das größte Problem. Die Technik für die solare Energiewende ist längst bekannt. In dieser Situation war die Verabschiedung des Gesetzes über die Erneuerbaren Energien im Bundestag ein wichtiger Meilenstein ins Solarzeitalter.

Schon einen Tag nach der Verabschiedung dieses Gesetzes hat Bill Gates in Deutschland bei der SolarWorld AG Solaraktien gekauft (Joschka Fischer hat das schon zwei Jahre vorher getan – herzlichen Glückwunsch!) Soeben hat die Immobilien- und Treuhandfirma bvt (Beratungs-, Verwaltungs- und Treuhandgesellschaft für internationale Vermögensanlagen mbH in München) angekündigt, daß sie einen off-shore Windpark von 1.700 Windrädern mit jeweils drei Megawatt bauen werde. Das heißt: Diese 1.700 Windräder im Meer werden soviel Strom produzieren wie drei Atomkraftwerke. Wenn wir gut sind, dann brauchen wir schon in zehn bis 15 Jahren kein einziges Atomkraftwerk mehr in Deutschland und kein Garzweiler II. Die heutigen 8.000 kleineren Windräder in Deutschland produzieren schon soviel Strom wie vier Atomkraftwerke.

Welch ein ökonomischer Unsinn, wenn noch immer behauptet wird, ökologische Energie sei zu teuer. Wie kann eine Energie zu teuer sein, die nichts kostet? Den Stoff für erneuerbare Energien gibt es weitgehend umsonst. Die Sonne schickt uns keine Rechnung, und der Wind schickt uns keine Rechnung, und das Wasser schickt uns keine Rechnung. Das einzige, was wir lernen müssen, ist, die kostenlosen Geschenke der Natur und des Himmels anzunehmen. Die Lösung steht am Himmel. Wir brauchen Garzweiler II so wenig wie die Atomkraft in Deutschland.

Eine Studie im Auftrag der Europäischen Kommission, erstellt von fünf wissenschaftlichen Instituten in Europa, kommt zum Schluß, daß bis 2050 die solare Energiewende vollendet sein kann. Die einzelnen Schritte könnten so aussehen: In 50 Jahren können wir mit der Hälfte der heutigen Energieverbräuche in Mitteleuropa auskommen, und zwar ohne Wohlstandsverlust. Das geht über mehr Energie-Effizienz und durch Solararchitektur. Solararchitektur bedeutet, daß deutsche Architekten endlich lernen, wo Süden ist, und entsprechend bauen. 40 Prozent der Energie, die wir dann noch brauchen, wird durch die direkte Nutzung der Sonne, also durch Sonnenkollektoren, Photovoltaik-Anlagen und solaren Wasserstoff gewonnen; 30 Prozent der Energie wird durch Biomasse gewonnen, also Energie vom Acker und vom Wald; eine zukunftsfähige Landwirtschaft orientiert sich nicht am Weltmarkt, sondern am Europäischen Energiemarkt. Bauern werden die Ölscheichs des 21. Jahrhunderts. 15 Prozent gewinnen wir über Windräder; 10 Prozent der Energie über Wasserkraft und noch fünf Prozent über Erdöl.

So sieht ein realistisches Energie-Szenario der Europäischen Kommission für das Jahr 2050 aus! Wenn wir allerdings bis dahin die solare Energiewende erreicht haben wollen, müssen wir jetzt mit großen Schritten den Sonnenweg begehen. In eine ähnliche Richtung weisen inzwischen bereits die Energie-Szenarien von Shell und BP. Beide Vorstände haben angekündigt, sie würden in den nächsten Jahrzehnten ihre heutigen Ölkonzerne zu Solarkonzern umbauen.

Nicht nur aus ökologischen, sondern ebenso aus ökonomischen Gründen führt an der solaren Energiewende kein Weg mehr vorbei. Die Ökologie wird die intelligentere Ökonomie. Wer es begreift, gehört zu den Gewinnern. Wer es nicht begreift, wird verlieren. Hauptsächlich mit grünen Ideen werden moderne Unternehmer künftig schwarze Zahlen schreiben.

Die Internationale Energie-Agentur schätzt, daß das Erdöl noch etwa 40 Jahre reicht, das Erdgas noch etwa 50 und Uran noch etwa 60 Jahre, Kohle etwa 100 bis 120 Jahre. Realist ist, wer davon ausgeht, daß in den nächsten Jahren Energie aus atomaren und fossilen Kraftwerken entschieden teurer und erneuerbare Energie entschieden billiger als heute werden wird.

Die Ökonomen werden lernen, mit der Sonne zu rechnen. Eine moderne ökologische Ökonomie wird lernen, daß die Sonne die einzige Einnahmequelle unseres Planeten ist – alles andere ist Ausbeutung knapper Ressourcen und damit weder ökologisch noch ökonomisch.

Die Sonne aber schickt uns jeden Tag 15.000mal mehr Energie, als alle sechs Milliarden Menschen zur Zeit verbrauchen. Die Alternative ist denkbar einfach: Wollen wir Energie, welche die Umwelt zerstört, in 40 oder 50 Jahren zu Ende ist und nach allen Gesetzen der Marktwirtschaft schon deshalb immer teurer werden muß? Oder steigen wir um auf eine Energiequelle, die noch 4,5 Milliarden Jahre funktioniert und kostenlos und umweltfreundlich ist?

Die große politische Frage hinter der heutigen Energiekrise heißt: Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne?

Um die Sonne werden keine Kriege geführt. Die Solarenergie ist die pazifistische und die demokratische Energiequelle des 21. Jahrhunderts. "Die Sonne scheint für Gute und Böse", das heißt für alle, heißt es schon in der Bergpredigt bei Jesus von Nazareth. Das aber heißt: Es gibt keine RWE-Sonne und keine Preußen Elektra-Sonne, sondern unser aller Sonne. Wenn die Energiekonzerne an der Sonne Aktien erwerben könnten, würden sie ab sofort nur noch Solarstrom anbieten.

Die alten Energiequellen konnten nur an wenigen Orten angezapft werden. Deshalb waren riesige Versorgungsketten rund um den Globus nötig. Laßt uns die alten Ketten sprengen. Erneuerbare Energien gibt es überall und in Fülle. Die Sonne scheint auf jedes Dach. Licht gibt es an jeder Hauswand. Das Solarzeitalter beginnt, wenn viele Menschen es wirklich wollen. Die Energiewende ist nötig und möglich. Das Motto künftiger Wahlerfolge könnte heißen: "Bürger – zur Sonne, zur Freiheit! Solarier aller Länder, vereinigt Euch!"

Rot-grün hat heute noch einen Auto-Kanzler. Wir brauchen aber einen Sonnen-Kanzler oder vielleicht eine Sonnen-Kanzlerin. Immerhin hat Gerhard Schröder bekräftigt, daß der Ausstieg aus der Atomenergie kommt. Ich habe begründete Zweifel, denn Gerhard Schröder führt seit acht Jahren Energie-Konsensgespräche – erfolglos.

Die solare Energiewende, die ökologische Verkehrswende, der biologische Landbau und umweltverträgliches Bauen würden nicht nur der Umwelt und damit uns allen guttun, sondern auch der Wirtschaft. Hier liegen Millionen Arbeitsplätze brach. Klaus Töpfer sagt zu Recht: "Umweltschutz ist kein Arbeitsplatz-Killer, sondern der Arbeitsplatz-Knüller der Zukunft."

Wir können ein ökologisches Wirtschaftswunder organisieren. Die Technik ist vorhanden. Aber wir tun noch nicht, was wir wissen. Erst eine ökologische Spiritualität, eine ökologische Ethik wird den großen Durchbruch bringen. Ökologie muß eine Herzensangelegenheit werden.

Eine ökologische Ethik müßte Abschied nehmen vom alten Grundsatz "Macht Euch die Erde untertan". Eine christlich inspirierte ökologische Ethik basiert vielmehr auf dem Motto: "Macht Euch der Erde untertan". Die Natur hat immer recht.

 

Dr. Franz Alt, 61, Journalist, war Leiter und Moderator des Fernsehmagazins "Report". Zuletzt veröffentlichte er das Buch, "Der ökologische Jesus – Vertrauen in die Schöpfung".


 
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