© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
Rote Karte für die alte Garde
CDU-Parteitag: Der Neunfang der Union zeitigt personelle Kosnequenzen
Alexander Schmidt

Seit Montag ist Angela Merkel die neue Vorsitzende der CDU. Knapp 96 Prozent stimmten für die Pfarrerstochter aus einer mitteldeutschen Provinz und bescherten ihr so ein besseres Ergebnis, als ihr Vorgänger Wolfgang Schäuble selbst vor eineinhalb Jahren verbuchen konnte. Merkel bildet mit dem neuen Generalsekretär Ruprecht Polenz das politische und geographische Gegengewicht zu Friedrich Merz und Jürgen Rüttgers, die als Mitglieder der nordrhein-westfälischen CDU ihre Position in den letzten Wochen stärken konnten.

In Essen rückte Rüttgers für Norbert Blüm, der nicht mehr für die Parteispitze kandidierte, in die Riege der Vize-Parteichefs auf, in der Rühe, Schavan und Wulff auch weiterhin ihre Plätze haben. Neuer Schatzmeister der Christdemokraten wurde der neu in die CDU eingetretene Ulrich Cartellieri, der vorher im Vorstand der Deutschen Bank arbeitete. Angela Merkel sprach in ihrer Rede davon , daß es nach den Zeiten der Affären wieder "zur Sache" gehen müsse, wie auch das Motto des Parteitages lautete. Die CDU, so Merkel weiter, habe wieder genügend Raum gewonnen, "um das öffentliche Interesse auf den Kern der politischen Auseinandersetzung in Deutschland zu konzentrieren". In Zeiten des Umbruchs, in denen es "radikale ökonomische und gesellschaftliche Änderungen" gibt, müsse die Union eine Politik betreiben, die über den Tag hinaus gehe und Konzepte für die staatlichen Haushalte, die sozialen Sicherungssysteme und den Schutz von Natur und Umwelt habe. Die Qualifikations- und Bildungsmöglichkeiten für Spitzenkräfte müßten gestärkt werden, es müsse aber auch "einfache Arbeit bezahlbar" gemacht werden.

In der Ausländerpolitik kündigte Frau Merkel an, die CDU wolle eine Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Asyl- und Zuwanderung führen. Es werde sich nichts an der Grundhaltung ändern, daß Deutschland weiterhin Menschen aufnehme, die in Not seien. In der Frage der "Kinder statt Inder", die in der Union in breiten Kreisen auf Ablehnung stößt, betonte Merkel, daß die Absicht der Regierung, befristete Arbeitsmöglichkeiten für ausländische Computerfachleute zu gewähren, der Ausdruck einer Politik nach Lust und Laune sei.

Familienpolitisch bietet auch die neue Parteiführung eine Überraschungstüte mit bisher unbekanntem Inhalt. Auf eine Anfrage von Lebensrechtlern innerhalb der Union, den Christdemokraten für das Leben (CDL), antwortete Merkel, daß es für sie im familienpolitischen Bereich keine Gleichstellung von homosexuellen Lebensgemeinschaften geben werde und auch die Lebensrechtssituation Bedeutung habe, die von der Union unter Kohl eher nebensächlich behandelt wurde. Sechs Anträge in diesem Bereich blieben am zweiten Tag jedoch erfolglos im Raum stehen.

Das spontane Vorziehen der Anträge ohne Wissen der Antragsteller verhinderte die vollzählige Anwesenheit der Konservativen in der Union. Dennoch sehen Vertreter des konservativen Flügels der Union der neuen Parteiführung optimistisch entgegen, weil das Merkelsche Prinzip der neuen Offenheit und Diskussionskultur auch denen wieder eine Stimme verleihe, die unter Kohl unterdrückt wurden. Aufbruchstimmung war dennoch deutlich in der Gruga-Halle zu spüren, Delegierte schienen neugierig zu sein auf Positionen, die noch vor Jahren mit dem Charme eines Schmuddelkindes behaftet waren. Nicht zuletzt der Aufruf Schäubles, daß die Zeit der Strippenzieher vorbei sei, verbalisierte die Situation der Union nach Essen. Kohl ist weg, jetzt können wir zeigen, was wir können, war in vielen Gesichtern fest eingeschrieben.

Befürchtungen aus der CSU, die Union rutsche durch eine liberale Führung weiter nach links, steht das Prinzip entgegen, daß ein politisches Lager die Politik des anderen Lagers betreibt, um Macht zu sichern. Merkel griff sogar ins Archiv und holte das alte CDU-Plakat "Freiheit oder Sozialismus" gedanklich wieder hervor.


 
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