© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
Kolumne
Altlasten
von Klaus Motschmann

Von Zeit zu Zeit wird aus jeweils gegebenem Anlaß ein alter Streit neu entfacht: der Streit um den Umgang mit den Stasi-Akten bzw. mit den IM, die an dem Zustandekommen des 180 Kilometer langen Aktenungetüms wesentlich beteiligt waren. So widersprüchlich die Argumente über die Verwertbarkeit dieses Materials im einzelnen auch sind, so besteht in einer sehr wichtigen Hinsicht inzwischen eine weitgehende Übereinstimmung, die an den schlechten Grundsatz einer bestimmten Historiker-Zunft erinnert: "Quod non est in actis, non es in mundo" – "Was nicht in den Akten steht, existiert nicht in dieser Welt". Die politische Auseinandersetzung mit bestimmten Personen oder Gruppen wegen ihrer politischen Rolle in der alten Bundesrepublik bzw. der früheren DDR wird maßgeblich durch die "Aktenlage" bestimmt – und immer weniger durch die jedermann zugänglichen Fakten. Die Stasi-Akten haben zumindest in dieser Hinsicht einen sehr hohen Aussagewert und werden dementsprechend auch in weiten Teilen der Medien genutzt.

Eine sehr naheliegende Frage wird in diesem Zusammenhang nicht gestellt: Warum sollte die Stasi bestimmte Personen, sei es in den alten Bundesländern oder in der früheren DDR, förmlich per Unterschrift zur Mitarbeit gewinnen und womöglich auch noch der Leitung eines Führungsoffiziers der Stasi unterstellen, wenn sie bereits ohne eine derartige Vereinbarung und völlig freiwillig die von der Stasi angestrebten Ziele verfolgten? Jeder direkte Kontakt, womöglich durch konspirative Treffen, hätte diesen Personenkreis lediglich verschreckt und auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Deshalb gehörte es – und gehört heute noch immer – zu den Grundsätzen kommunistischer Strategie und Taktik, zu bestimmten Personen und Gruppen keine direkten Kontakte zu unterhalten. Der langjährige Chef der KOMINTERN, Georgi Dimitroff (1882–1949) hat diesen Grundsatz in einprägsamer Kürze wie folgt formuliert: "Überlassen wir die Arbeit unseren Freunden! Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß jemand, der mit uns sympathisiert, im allgemeinen mehr wert ist als ein Dutzend militanter Kommunisten. Ein Universitätsprofessor, der ohne Parteimitglied zu sein, sich für die Interessen der Sowjetunion (d.h. für den Weltkommunismus, K.M.) einsetzt, ist mehr wert als hundert Leute mit einem Parteibuch; ein angesehener Schriftsteller oder ein General sind wichtiger als 500 arme Teufel, die nichts anderes tun können als sich von der Polizei zusammenschlagen zu lassen."

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an  der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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