© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
Vernunft und Barbarei
Ausstellung zum 100. Geburtstag von Erich Fromm
Werner Olles

Im Februar 1970 malten Unbekannte nachts in den Fluren und Treppenhäusern eines Gymnasiums im oberhessischen Homberg antiautoritäre Sprüche an die Wände, die jene vor allem in den Kleinstädten noch vorherrschende "deutsche Ordnungsmentalität" ironisieren sollten: "Narrenhände beschmieren Tisch & Wände", "Ordnung ist das halbe Leben", und "Uns geht’s zu gut". In der großen Pause erschienen Frankfurter Studenten auf dem Schulhof und verteilten Flugblätter, in denen eine "Rote Zelle Homberg" für die Schulungsgruppe "Zur Analyse des Faschismus" einlud. Darin hieß es: "Die Charakterstruktur, auf der Faschismus basiert, lebt in der formalen Demokratie fort. Wollte die Schule an die Wurzeln des Faschismus herangehen, müßte sie sich selber zum Gegenstand machen, & das kann kaum von ihr verlangt werden. Das werden wir jetzt für sie tun". In der Schulungsgruppe sollten sozialpsychologische Texte von Erich Fromm und anderen Autoren aus dem Umkreis der Kritischen Theorie studiert und "ideologiekritisch analysiert" werden.

Diese kleine Anekdote illustriert nur eines von zahllosen Mißverständnissen, die die 68er mit den Vertretern der Frankfurter Schule hatten. Tatsächlich hat sich außer Herbert Marcuse kein einziger der älteren Generation Kritischer Philosophen vorbehaltlos mit den jungen Rebellen solidarisiert. Adorno und Horkheimer versuchten vergeblich, der politischen Schauerromantik der Seminarmarxisten des SDS, die ihre banalen Happenings als "antifaschistischen Widerstand" deklarierten, ihre verlogene Theatralik zu nehmen. Von Erich Fromm hingegen, von dem die Studenten viel über ihre falsche Vorstellung eines geschlossenen Zwangszusammenhangs von Kapitalismus und Faschismus und der Möglichkeit einer Öffnung zu einem befreiten Dasein hätten lernen können, pickte man sich nur das heraus, was die eigene Meinung nicht in Frage stellte.

Dabei hatte kaum jemand so rigoros wie Fromm mit der Fortschrittsgläubigkeit der Moderne abgerechnet. In seinem auf dem Höhepunkt der Revolte 1968 erschienenen Buch "Die Revolution der Hoffnung" empfahl er "eine neue Orientierung, eine neue Philosophie, die sich nach dem Prioritäten des physischen und geistigen Lebens richtet und nicht nach den Prioritäten des Todes". Fromm schrieb, daß "traditionelle Klischees wie "links" oder "rechts" und "Kommunismus" oder "Kapitalismus" ihre Bedeutung verloren haben. Klar erkannte er auch, daß "die Sehnsucht des Menschen nach dem wirklich Dramatischen, das die Grundlagen der menschlichen Existenz anrührt, nicht tot ist, weil solch elementare Eintönigkeiten durchbrechen, uns Menschen, die nach dem Drama hungern, faszinieren".

Auf diese Dialektik des Philosophen und Analytikers von Leben und Tod ist die ihn verehrende Linke jedoch aus gutem Grund niemals näher eingegangen, denn die von ihm zu Recht befürchtete konstitutive Affinität der Vernunft zur Barbarei hätte ihr gesamtes Wahngebäude sehr schnell zum Einsturz gebracht. Die Ausstellung zum 100. Geburtstag Erich Fromms im Frankfurter Museum Judengasse thematisiert zwar nicht diese offensichtlichen Widersprüche, aber Fromms Leben und Werk sind allemal spannend und interessant.

Am 23. März 1900 als Sohn des orthodoxen jüdischen Weinhändlers Naphtali Fromm in Frankfurt am Main geboren, studierte er bereits als Gymnasiast und Student den Talmud und war Schüler des bekannten Rabbiners Salman Rabkinow. Nach Studien der Soziologie, Psychologie und Philosophie promovierte er in Heidelberg bei Alfred Weber in Soziologie, um anschließend in Berlin eine Ausbildung zum Psychoanalytiker zu absolvieren. 1929 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Psychoanalytischen Instituts in Frankfurt. Bis 1932 lehrte Fromm an Horkheimers Institut für Sozialforschung.

Neben Fotografien aus seiner Kindheit und Jugend, Bildern seiner Eltern und Großeltern, Auszügen aus privaten Briefen, darunter zum Beispiel auch Kuriosa wie ein Geburtstagsgedicht an seine Mutter, die dem Besucher den "unbekannten Fromm" nahebringen, belegt die Dokumentation auch die Stationen seiner akademischen Karriere, zeigt seine Lehrer, aber auch bisher unveröffentlichte Korrespondenzen mit Wissenschaftlern und Politikern, Fernsehinterviews und Mitschnitte seiner Vorlesungen. Die meisten der rund 220 Exponate stammen aus dem Tübinger Fromm-Archiv, das die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft, die auch die Ausstellung veranstaltet, verwaltet.

Fromm, der 1934 in USA emigrierte und später in Mexiko und in der Schweiz lebte, wo er im März 1980 auch gestorben ist, hat über vierzig Bücher geschrieben mit einer Auflage von etwa fünfzig Millionen Exemplaren. Zu den bekanntesten seiner Werke, auf die auch in der Ausstellung näher eingegangen wird, gehören "Die Kunst des Liebens" (1956), das – in fünfzehn Sprachen übersetzt – zum Kultbuch einer ganzen Generation avancierte, und sein Spätwerk "Haben oder Sein" (1976), das mehr als eine Million Mal verkauft wurde.


 
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