© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
Die Zähmung der Bestie Mensch
Von Ernst Nolte

Abkürzend und sicherlich zuspitzend kann man also unter Verwendung Nietzschescher Begriffe sagen: Nietzsche und der Nietzscheanismus waren in der deutschen Gegenwart seit 1945 ein Thema von "antiquarischem" Interesse, so viele Philosophen und Schriftsteller sich auch damit beschäftigen mochten. Marx und der Marxismus gehörten dagegen in den "monumentalen" Bereich, der in vielen Menschen starke Emotionen auszulösen vermochte. Diesen Tatbestand muß man sich präsent machen, wenn man verstehen will, weshalb ein Vortrag eines philosophischen Schriftstellers, Peter Sloterdijk, im Jahre 1999 so viel Aufregung hervorrief und so viel Kritik auf sich zog. Vorwegnehmend läßt sich feststellen: Der Grund bestand darin, daß erstmals ein Intellektueller, der zu den "Achtundsechzigern" gezählt wurde und der dem einflußreichsten der deutschen Verlage, dem Suhrkamp Verlag, beinahe ebenso eng verbunden war wie Habermas, sich für eine gewagte These auf Nietzsche berief und von Marx völlig absah. Aber der "Skandal" entstand erst dadurch, daß Habermas in Person einen Redakteur der Zeit zu einem heftigen Angriff auf die "faschistoide" Tendenz des Sloterdijkschen Vortrags veranlaßt zu haben scheint, daß danach der ganze Vortrag selbst auf fünf Seiten der Zeit vom 16. September 1999 abgedruckt wurde und daß bald darauf fast alle großen deutschen Zeitungen ihre Beiträge zur "Sloterdijk-Debatte" publizierten.

In der Tat mußte die Überschrift, unter der die "Elmauer Rede" publiziert wurde, Verwunderung und Befremden erregen, denn sie lautete "Regeln für den Menschenpark". Aber in ihrem Anfang schien sie lediglich ein subtiles Stück philosophischer Überlegungen zu sein. Sloterdijk geht nämlich vom "Humanismus" aus, in dessen Kern er den "Traum von der schicksalhaften Solidarität derer, die dazu auserwählt sind, lesen zu können" entdeckt und dessen "bürgerliche" Gestalt durch die Lektüre von Klassikern bestimmt gewesen sei, und zwar mit der altüberlieferten Absicht einer "Zurückholung des Menschen aus der Barbarei". Sloterdijk fährt jedoch nicht in der marxistischen und schon progressivistischen Manier fort, daß dieser Humanismus elitär gewesen sei und "demokratisiert" werden müsse, sondern er nimmt Bezug auf Martin Heideggers "Brief über den Humanismus" von 1946, und er macht kein Hehl aus seiner Meinung, daß man hier auf adäquatere Weise von einer "Überwindung des Humanismus" sprechen könne. Nach Heidegger gehe der überlieferte Humanismus von der "animalitas" des Menschen aus, der er den "Logos" oder die "Vernunft" bloß als ein weiteres Vermögen hinzufüge, statt den Menschen als solchen und im ganzen als den Ort der "Lichtung des Seins" zu erkennen. Daher spreche Heidegger vom Menschen als dem "Hirten des Seins" und beziehe ihn, dessen Sprache das "Haus des Seins" sei, in eine Zähmung und eine Befreundung ein, die tiefer gingen als jede humanistische Entbestialisierung jemals reichen könne.

"Das Ergebnis des Sloterdijkschen Denkversuchs dürfte doch ein Zukunftsbild sein, das von Heideggers ’Hirten‘, Nietzsches ’blonder Bestie und Platons königlichem Menschenzüchter gleich weit entfernt ist."

Der überlieferte Humanismus sei dagegen nach Heidegger der Ausdruck einer anthropozentrischen oder subjektivistischen Gewalt gegen das Seiende, und er habe sich in jüngster Zeit in der Titanomachie zwischen Bolschewismus, Faschismus und Amerikanismus dargestellt, die sich bloß auf äußerliche Weise voneinander unterschieden hätten. So werde "die Epochenfrage" unausweichlich, was den Menschen noch zähme, noch ent-bestialisiere, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitere. Heidegger habe eine "Gesellschaft der Besinnlichen" im Auge, aber diese Bestimmung genügt Sloterdijk nicht. Er glaubt nämlich, Heidegger dadurch verbessern oder ergänzen zu können, daß er die Naturgeschichte und Begriffe wie "lebendgebärendes Säugetier Mensch" und "Neotenie" ins Spiel bringt.

Bis hierhin bedeutete ihm "Zähmung" offenbar nichts anderes als "Bildung" und "Auslese", soviel wie "Weg zur humanistischen Elite", aber nun zieht er Nietzsche heran und zitiert einen längeren Abschitt aus dem "Zarathustra". Jetzt wird die Aussage möglich, die Lichtung sei zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion. Die aber sei von "Zucht" und "Züchtung" nicht zu trennen, und wenn Nietzsche als "der Meister des gefährlichen Denkens" mit ganz negativem Akzent von der scheinhaften Tugend spreche, die "den Menschen selber zu des Menschen bestem Haustier" gemacht habe, dann gewinnt das Wort "Zähmung" plötzlich einen negativen Ton, und Sloterdijk kann von "Anthropotechniken" und der Forderung sprechen, "ein späteres Nachdenken über die Humanität jenseits der humanistischen Harmlosigkeit zu provozieren".

Läuft dieser Gedankengang nicht auf Nietzsches Begriff der "blonden Bestie" als des nicht-harmlosen, nicht-gezähmten Menschen zu? Aber Sloterdijk will offenbar eine Ent-Zähmung nicht als Ent-Hemmung verstanden wissen, denn er spricht mit negativem Akzent von dem Zivilisationsprozeß der Gegenwart, "in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt". Wenn Sloterdijk die Frage nach der Möglichkeit einer "Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion" für begründet erklärt, bewegt er sich im Bereich von Erörterungen, die heute alles andere als exzeptionell sind, auch wenn sie einen anstößigen Terminus wie "Selektion" vermeiden.

Aber indem er nun einen dritten klassischen Text heranzieht, nämlich Platons Dialog "Politikós", benutzt er Begriffe wie "Menschenpark", "Menschenhaltung in Parks oder Städten", "züchterisches Königswissen" und "Expertenkönigtum". Tatsächlich konstatiert er selbst die "Explosivität" von Platons Überlegungen, denn es handle sich hier um "das Programm einer humanistischen Gesellschaft, die sich in einem einzigen Voll-Humanisten, dem Herrn der königlichen Hirtenkunst, verkörpert". Die Aufgabe dieses Über-Humanisten wäre keine andere "als die Eigenschaftsplanung bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß". Ein Programm wie dieses wäre ohne Zweifel wie ein Faustschlag in das Gesicht einer Gesellschaft, die als höchsten Wert die unaufhörliche "Demokratisierung" betrachtet.

Es handelt sich indessen schwerlich um Sloterdijks Programm. Er stellt nämlich ausdrücklich fest, daß in der Gegenwart nicht nur die Götter, sondern auch die Weisen und damit jene Über-Humanisten nicht zu finden sind. Mithin scheint er sich gar nicht so weit von den heute üblichen Idealen und Postulaten entfernt zu haben, ja man könnte behaupten, der letzte Satz in den Anmerkungen zu demText könne auch in einer Festrede zur Gründungsfeier eines humanistischen Gymnasiums einen Platz finden, denn er lautet: "So wie in der Antike das Buch den Kampf gegen die Theater verlor, so könnte heute die Schule den Kampf gegen die indirekten Bildungsgewalten, das Fernsehen, das Gewaltkino und andere Enthemmungsmedien verlieren, wenn nicht eine neue gewaltdämpfende Kultivierungsstruktur entsteht."

Aber das eigentliche Ergebnis des Sloterdijkschen Denkversuchs, der sich auf so unterschiedliche und leicht mißverständliche Texte von Heidegger, Nietzsche und Platon stützt, dürfte doch ein Zukunfstbild sein, das von Heideggers "Hirten", Nietzsches "blonder Bestie" und Platons königlichem Menschenzüchter gleich weit entfernt ist. Es handelt sich um die Platonische Vorstellung, daß es zwei relative Optima der Menschenartung gebe: die kriegerische Tapferkeit einerseits und die philosophisch-humane Besonnenheit andererseits und daß die beiden gleichermaßen das Gewebe des Gemeinwesens bilden müßten.

Unter der kriegerischen Tapferkeit kann Sloterdijk unmöglich Figuren wie den gepanzerten Ritter und den stahlhelmbewehrten Frontkämpfer oder auch den Kampfflieger verstehen, der aus unerreichbarer Höhe seine Bomben wirft, sondern er muß eine Stärke des Willens und eine Entschiedenheit der Abstandnahme im Auge haben, die in der demokratischen Konsumgesellschaft nicht eben die Regel sind, und mit dem Begriff der "philosophisch-humanen Besonnenheit" dürfte er zu Heidegger zurückgekommen sein, den er mit Hilfe Nietzsches überwinden wollte. Aus der Verbindung der beiden Optima würde eine Gesellschaft resultieren, die von der gegenwärtig vorhandenen sehr verschieden, ja vermutlich allzu verschieden ist, so daß man Sloterdijk unter die "Utopisten" einreihen müßte.

Doch die Kritik, die ihm aus nahezu allen deutschen Blättern entgegenschlug, sah in ihm fast ausschließlich den Nietzsche-Epigonen, der gerade die gefährlichsten Tendenzen in dem Werk des Philosophen wieder zum Leben erwecken wolle. Thomas Assheuer schrieb in der Zeit vom 23. September 1999, eine Kulturkritik, die mit aggressivem Ressentiment gegen Sozialstaat und "Massenkultur" aufgeladen sei, sei durchaus geeignet, die demokratische Kultur zu vergiften; der Spiegel  wählte Überschriften wie "Hitler, Nietzsche, Dolly und der neue Philosophenstreit", "Harlekins Griff nach der Macht" und "Der antiliberale Reflex"; Richard Herzinger sprach im Tagesspiegel vom 6. Oktober 1999 vom "gedankenwirren Raunen eines philosophischen Schamanen" und erklärte Sloterdijk für das Sprachrohr "von Teilen einer (ein)gebildeten Kaste, die sich in der Vilefalt der pluralistischen Gesellschaft nicht mehr zurechtfindet"; in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde Sloterdijk als "neuheidnischer Tabubrecher" charakterisiert.

"Sloterdijk hatNietzsche nicht mehr nur als einen Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung behandelt, sondern ihn wieder als einen Mitdenker in das Gespräch der ’großen‘ Öffentlichkeit eingeführt."

Der Chefredakteur der Zeit, Roger de Weck, suchte, wie auch einige andere Kritiker, ein allzu hartes Urteil zu vermeiden und fragte im Hinblick auf Nietzsche lediglich, ob es für die Deutschen nur den "Nietzsche der Nazis und nie mehr jenen Nietzsche" gebe, der den Wilhelminismus gebrandmarkt habe. Aber er sah die eigentliche Gefahr darin, daß sich mit Sloterdijks Rede etwas wiederholt habe, was 1986 mit dem "Historikerstreit" angefangen habe und was sich dann mit der Rede Martin Walsers beim Empfang des Friedenspreises des deutschen Buchhandels fortgesetzt habe, nämlich die Infragestellung der geistigen Grundlage der Bundesrepublik, die sich als ein "Kulturkampf" einiger Intellektueller gegen Autoren wie Jürgen Habermas und Günther Grass vollziehe.

Gemeint ist offenbar der linksliberale "mainstream", der nach der Auffassung der Zeit anscheinend allenfalls von den etwas abweichenden Stimmen des Liberalkonservativismus und des Reformsozialismus orchestriert werden sollte. Aber de Weck übersieht das unverwechselbare Hautpkennzeichen der liberalen Demokratie, das darin besteht, daß sie auch ihren grundsätzlichen Gegnern eine Stimme, wenngleich nicht einen uneingeschränkten Wirkungsraum zugesteht. Die Intellektuellen, die 1986, 1993, 1996 und 1998 Kritik vorbrachten, waren keine solchen grundsätzlichen Gegner, und sie traten allenfalls für dasjenige ein, was auch der "mainstream" das "Recht auf freie Meinungsäußerung" nennt, aber faktisch weithin einschränkt. Daß der linksliberale "mainstream" aufhört, liberal zu sein, und sich dem Totalitarismus nähert, sobald ihm eine ernsthafte Selbstkritik und damit die Bereitschaft abhandenkommt, auch "skandalöse" Meinungen anzuhören und zu prüfen, dürfte für niemanden eine wichtigere Einsicht sein als für die Repräsentanten dieses "mainstream" selbst. Das Umschlagen der Toleranzforderung in Fanatismus und Intoleranz ist eine nur allzu naheliegende Gefahr, und der Verzicht auf die Sorgfalt der Wiedergabe der Auffassungen des Gegners bildet einen ersten Schritt.

Sloterdijk hat – so gewiß unkritische oder gar enthusiastische Zustimmung der falsche Weg wäre – als erster Nietzsche nicht mehr nur als einen Gegenstand der Uminterpretation oder der wissenschaftlichen Forschung behandelt, sondern er hat ihn nach langer Zeit wieder als einen Mitdenker in das Gespräch der "großen" Öffentlichkeit eingeführt. Auf die Kritik, die ihm begegnete, hat er nicht, wie das heute so oft der Fall ist, mit einer Art von Kapitulation reagiert, sondern er hat Habermas und dessen Anhänger ungescheut mit "Jakobinern" verglichen, also, wie man sagen könnte, als "Großinquisitoren von links" gekennzeichnet. Dadurch hat er für die Frage nach "Nietzsche in der deutschen Gegenwart" und potentiell sogar für die Wirklichheit des "Liberalen Systems" im wiedervereinigten Deutschland neue und bessere Voraussetzungen geschaffen.

 

Prof. Dr. Ernst Nolte, Historiker, lehrte von 1965 bis 1973 in Marburg und danach bis zu seiner Emeritierung 1991 am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin Neuere Geschichte. Bei diesem Text handelt es sich um den letzten Teil seines Nachwortes zu seinem soeben neu aufgelegten Buch "Nietzsche und der Nietscheanismus" (Herbig, München 2000).


 
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