© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Humanisierung
Karl Heinzen

Allen ihren Phrasen von europäischer Integration zum Trotz ist die Bundesrepublik Deutschland offenbar nicht gewillt, demokratische Mehrheitsentscheidungen der EU zu akzeptieren. Fast schon provozierend stellt sie sich mit ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof der neuen Richtlinie zum Totalverbot der Tabakwerbung in den Weg, obwohl diese sowohl von der Kommission als auch vom Ministerrat als auch vom Europaparlament beschlossen worden ist. Ein Affront, der das Vertrauen der Europäer in die Deutschen schwächt und allein einer verschwindend kleinen Sonderinteressengruppe vage Aussichten auf einen Nutzen bietet: Es sind ausschließlich einige wenige Werbe-agenturen, die befürchten müssen, daß bei einem Erfolg der EU bestimmte Etats ersatzlos entfallen. Alle anderen Betroffenen können, auch wenn sie jetzt noch vermeintlich opponieren, von einem Werbeverbot nur profitieren.

Für die Markenindustrie handelt es sich zumindest um einen interessanten Präzendenzfall. Über die Auswirkung von Werbung auf die Kaufentscheidung der Konsumenten gibt es nur wenig gesicherte Erkenntnis. Vermutlich werden Milliardenbeträge verschleudert, bloß um dabei zu sein und in der Markenpräsenz gegenüber der Konkurrenz nicht abzusacken. Die Unternehmen dürfen und können sich untereinander nicht frei darauf verständigen, ihre Werbeetats zu beschränken. Nun bietet die EU-Richtlinie als eine Art Zwangskartell die Chance eines Tests, der sich zum Signal auswachsen könnte: Sollte der Zigarettenkonsum trotz eines radikalen Werbeverzichts nicht so weit einbrechen, daß die Gewinneinbuße aus Umsatzrückgängen die Kostenersparnis aus unterlassener Werbung überkompensiert, wird es nicht ausbleiben, daß man auch über andere Werbeverbote nachdenkt, zum Beispiel für Bier oder für Autos.

Sollte es zu einer derartigen Kettenreaktion kommen, würden nicht zuletzt die Medien, in denen bislang Werbung geschaltet wird, einen Nutzen davon haben. Die Markenindustrie könnte mehr als je zuvor für redaktionelles Wohlwollen leisten. Neue, intelligente Dienstleistungsangebote im Journalismus erhielten eine Perspektive. Die bislang in Agenturen versickernden Honorare stünden zur Verteilung zwischen Medien und Industrie an, und es wäre sehr gut möglich, daß sogar für den Verbraucher etwas übrigbliebe.

Dieser aber ist es, dem vor allen anderen mit einem Werbeverbot gedient wäre. Die Raucher könnten, das ist eine ausgleichende Gerechtigkeit, die ersten sein, die es zu spüren bekommen. Im Falle eines Scheiterns der deutschen Klage hätte ihre permanente Demütigung durch die Werbung ein Ende. Sie wären davon erlöst, daß man sie aufgrund ihrer Entscheidung für eine Zi-garettenmarke mit jenem lächerlichen Image identifiziert, das irgendeine menschenverachtende und kulturverhöhnende Werbeagentur von ihnen aufbauen darf. Diese Chance zur Humanisierung unseres Alltags darf nicht verspielt werden.


 
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