© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Die Kraft der Freiheit
Warum die Welt kein Schachspiel ist
Baal Müller

Von dem scholastischen Philosophen Johannes Buridanus stammt das Gleichnis vom Esel zwischen den beiden Heuhaufen: Wenn beide Haufen gleich groß wären und gleich schmackhaft erschienen, der Abstand zum Esel jeweils derselbe und auch sonst alles gleich wäre, könnte sich das arme Tier nicht entscheiden und müßte verhungern. Offensichtlich bedarf die Entscheidung nach dieser Annahme irgendeines Stimulus; sie kann nicht von selbst als spontaner und grundloser Akt erfolgen, da jede Veränderung durch irgendetwas bedingt, mithin auch im Bereich des Vitalen irgendwie motiviert sein muß. Die Natur macht nach der deterministischen Auffassung solcher Philosophen auch für den Menschen keine Ausnahme; sie macht keine Sprünge.

Irgendwie wird diese Position freilich als etwas unbefriedigend empfunden; zum einen will sie mit unserer Selbsteinschätzung durchaus nicht zusammenpassen, und zum anderen widerspricht sie auch unseren moralischen Vorstellungen. Als menschliche Maschinen sind letztlich alle gleich.

Die Freiheit des Menschen steht und fällt unter der Prämisse vom durchgängig determinierten Naturgeschehen mit der Annahme eines autonomen Reservates der Subjektivität, deren Willensakte gleichwohl auf die "äußere" Welt einwirken können. Diese Willensakte sind allerdings außerordentlich mysteriös, wie etwa der britische Philosoph Gilbert Ryle in "The Concept of Mind" gezeigt hat. Ryles erster Einwand gegen die Theorie der Willensakte besteht in dem Hinweis darauf, daß niemand, auch kein Vertreter dieser Lehre, in der Umgangssprache das menschliche Verhalten entsprechend beschreibe und zum Beispiel sagen würde, "er habe fünf schnelle und leichte und zwei langsame und schwere Willensakte zwischen Frühstück und Mittagessen ausgeführt". Zweitens bleibe generell unklar, ob jemand wirklich vor oder während einer Tat einen Willensakt vollzogen habe und für diese folglich verantwortlich sei, denn die Willensakte seien ja äußerlich nicht unmittelbar wahrnehmbar, könnten also nur erraten werden. Auch die Versicherung, jemand habe einen solchen Akt wirklich vollbracht, die Tat somit "gewollt", ändere daran nichts, da es sich auch bei ihr nur um äußerliche Geräusche und Muskelbewegungen handle. Drittens ist nach Ryle nicht einsichtig, wie die geistige und immaterielle Willenstat überhaupt auf die materielle Welt wirken könne, und viertens bleibt fraglich, wodurch die Willensakte selbst bewirkt würden. Da ein Akt des freien Willens nicht unfreiwillig geschehen könne, müsse er freiwillig sein, das heißt durch einen anderen freien Willensakt veranlaßt worden sein.

Ryle versucht, diese Probleme durch einen Rekurs auf die Alltagssprache zu lösen: "In ihrer gewöhnlichstenVerwendung werden ’freiwillig‘ und ’unfreiwillig‘ mit kleinen Abweichungen als Eigenschaftswörter für Handlungen verwendet, die man nicht hätte tun sollen." Wenn etwa jemand zu spät gekommen ist, prüft man, ob er dies hätte vermeiden können; war dies nicht der Fall, so geschah das Zuspätkommen unfreiwillig und somit schuldlos. Auf Zustände seines Bewußtseins wird nicht Bezug genommen, allein die Betrachtung der tatsächlich wahrnehmbaren Ereignisse genügt, um die Frage der Willensfreiheit zu klären.

Grundsätzlich ist diese Unterscheidung plausibel; sie setzt allerdings bereits ein festes Kategoriensystem voraus, in dem richtige und falsche Handlungen eindeutig definierbar sind, was in der Praxis problematisch sein kann. Lassen wir dies jedoch einmal dahingestellt und akzeptieren wir Ryles Unterscheidung zwischen freiwilligen und absichtlichen Handlungen: freiwillig sind dann falsche oder unrechtmäßige Handlungen, die auch besser oder richtig hätten vollbracht werden können, und absichtlich sind prinzipiell alle Taten, auch die negativen, wenn ihnen ein Entschluß zugunde liegt, der jedoch keinen verborgenen inneren Zustand darstellt, sondern allein aus den konkreten Handlungen erkennbar ist.

Hinter der Verwechslung von Freiwilligkeit und Absichtlichkeit erkennt Ryle das philosophische Bestreben, dem Menschen ein Reich der Spontaneität jenseits einer deterministisch gedachten Natur zu sichern. Dies sei allerdings gar nicht nötig, da die durchgehende Beschreibung des Naturprozesses mit Hilfe entsprechender Gesetze der menschlichen Freiheit nicht widerspreche, sondern vielmehr nur ein mögliches Erklärungsmodell unter anderen darstelle. Auch ein Schachspiel beispielsweise sei durch strenge Regeln gekennzeichnet, die für die Spieler unhintergehbar seien, und dennoch vollziehe sich innerhalb und in Anwendung dieser Regeln das freie und nicht vorhersehbare Spiel.

Nun ist die Welt jedoch kein Schachspiel, und die Analogie verwischt daher den zentralen Unterschied zwischen Spielregeln und Naturgesetzen: Erstere beruhen auf Konventionen, die jederzeit geändert werden können, während letztere nicht in derselben Weise unserer Willkür unterliegen. Zwar lassen sich dieselben Erscheinungen der Natur auf unterschiedliche Weise bezeichnen und beschreiben, und die eine Beschreibung wird aufgrund größerer Einfachheit und genauerer Übereinstimmung mit den Phänomenen einer anderen vorgezogen werden, aber all dies geschieht nach Maßgabe einer Plausibilität, die für bloße Spielregeln nicht zu gelten braucht. Zwar sollen diese auch logisch formuliert und für alle Spieler verbindlich sein, die Schachfiguren also nicht einmal so und plötzlich wieder ganz anders bewegt werden dürfen, aber die Regeln des Spiels müssen keine außerhalb desselben liegenden Realitäten beschreiben. Sie sind Vorschriften, mit denen etwas bewirkt werden soll – darin moralischen oder juristischen Gesetzen vergleichbar –, nicht aber formalisierte Beschreibungen von Eigenschaften und Zuständen.

Ryle hätte die deterministische Hypothese besser durch einen Rekurs auf die tatsächliche Entwicklung der modernen Naturwissenschaften zurückweisen können: Da die Vorstellung eines determinierten und prinzipiell berechenbaren Systems von der Entwicklung der Naturwissenschaften selbst ins Reich der Fabel verbannt wurde, besteht gar nicht mehr die Notwendigkeit, der Freiheit eine Oase in der Wüste der Ursachen und Wirkungen zu sichern; vielmehr lassen sich Grade der Unbestimmtheit durch das gesamte Reich der Natur, einschließlich des Menschen, hindurch ausmachen.

Freiheit ist nicht allein dem Menschen eigentümlich, und die Natur ist kein reines Geschiebe und Gestoße von aufeinander "wirkenden" Klötzen, sondern Freiheit und Unfreiheit können prinzipiell überall, wenngleich in unterschiedlichem Maße, vorliegen. Die Bestimmung des Menschen durch hemmende und nötigende Faktoren widerspricht also nicht seiner Freiheit, die allein mit Bezug auf ihre jeweiligen Kontexte zu analysieren ist.

Hier erscheint es in der Tat sinnvoller, der Umgangssprache und den gewöhnlichen Verwendungen von Begriffen wie "freiwillig" und "unfreiwillig" nachzugehen, als eine in die deterministische Natur gleichsam eingekapselte Subjektivität anzunehmen.

Wenn Freiheit eigentlich darin besteht, Hindernisse und Schranken auf eine nicht exakt vorherbestimmbare Weise überwinden zu können, dann ist sie vor allem eine Art Kraft und Aktivität. In diesem Sinne hat Nietzsche die Unterscheidung zwischen "frei" und "unfrei" zugunsten derjenigen von starkem und schwachem Willen aufgegeben. Frei ist der Starke – nicht in dem naiven und brutalen Sinne, daß er mehr darf oder dürfen soll als der Schwächere, sondern deshalb, weil er eine Handlung gegen Einschränkungen eher durchsetzen kann. Ob er das auch darf, steht auf einem anderen Blatt.


 
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