© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Unstillbare Sehnsucht
Vor 25 Jahren starb der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann
Werner Olles

Fluchtträume" attestierte ihm Roman Ritter, und auch der Vorwurf des "faschistoiden Sprachgebrauchs und Menschenbildes" (Michael Zeller) blieb ihm nicht erspart. Immerhin hatte er 1968 auf einer Tagung die versammelten Literaturkritiker mit dem Satz geschockt: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen."

Rolf Dieter Brinkmann hat den Kulturbetrieb in der Bundesrepublik – angeekelt vom falschen korrumpierten Sinn der Ideologien – wie kein zweiter mit unversöhnlichem Haß verfolgt und seine Schriftstellerkollegen verachtet und verspottet. Und dennoch hat kein geringerer als Heiner Müller geradezu emphatisch über ihn geurteilt: "Ich finde, das einzige Genie in dieser Literatur hier war der Brinkmann. Was er geschrieben hat, ist wirklich ein Dokument dieses Landes."

Rolf Dieter Brinkmann wurde am 16. April 1940 in Vechta geboren. Nach einer Buchhändlerlehre und dem Pädagogikstudium ließ er sich in Köln nieder. 1962 erschien sein erster Gedichtband "Ihr nennt es Sprache", es folgten mehrere Lyrikbände in kleineren Verlagen, 1965 dann der erste Prosaband "Die Umarmung". In "Raupenbahn" (1966) und "Straßen und Plätze" (1967) wird der Einfluß des französischen nouveau roman deutlich, aber schon in dem autobiographischen Roman "Keiner weiß mehr" (1968) finden sich fotografisch gebannte Alltagssituationen, deren Gewaltförmigkeit und Ausweglosigkeit einem den Atem stocken lassen. Hier schrieb sich einer, der glaubte, an dem kleinkarierten Mief seiner Umwelt förmlich zu ersticken, dieses Angewidertsein rücksichtslos von der Seele.

Ende der sechziger Jahre machte Brinkmann, dessen besondere Sympathie der amerikanischen Beat-Szene galt, deren Texte in der Bundesrepublik bekannt. In "ACID. Neue amerikanische Szene" und "Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik", die er auch übersetzte, wurden hierzulande erstmals Elemente des amerikanischen Lebens wie Jazz-Musik, Comics und Spots artifiziell montiert. Was er an dieser Literatur schätzte, war ihre Art, Geschichten zu erzählen und sich dabei ganz auf alltägliche Beobachtungen zu verlassen.

Nach dem Scheitern der Studentenrevolte und der zunehmenden Vermarktung der Subkultur flüchtete sich Brinkmann in eine wütende Selbstisolation. Obwohl er wie besessen schrieb, veröffentlichte er in den siebziger Jahren kaum noch etwas. Er ließ sich gleichsam von Realitätseindrücken überfluten, füllte Notizbücher, Zettelkästen und Schnellhefter mit Konvoluten von Wortkaskaden, Stadtplänen, Ansichtskarten, Zeitungsausschnitten, Briefen an seine Frau, Fotos und Restaurantrechnungen, allesamt Rohstoff für ungeschriebene Bücher, "von denen jedes, so verstand er sich, eine Attacke auf die Gesellschaft werden sollte" (Nicolas Born).

Im Frühsommer 1974 kam er von einer Gastdozentur an der Universität von Austin, Texas, nach Köln zurück. Mehr denn je empfand er sich hier als extremer Einzelgänger. Einem seiner Studenten schrieb er: "Die Leute sind alle geduckt und voll Wut und Angst, ein kranker Sex schleicht rum durch die Straßen, die Vergnügungen sind alle ausgestorben." Bei Rock- und Bluesmusik träumte der Dichter, der seine Liebe zur amerikanischen Musikszene im durch AFN, Hollywoodfilme und Coca-Cola kolonialisierten Nachkriegsdeutschland frühzeitig entdeckt hatte, sich aus dieser geistigen und räumlichen Enge weg. In dem Gedichtband "Westwärts 1 & 2" (1975) hat er diese eher ruhigen Gegenbilder noch einmal eindrucksvoll dargelegt. Kurz darauf, am 23. April 1975, ist Rolf Dieter Brinkmann bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben gekommen.

Vier Jahre später erschien postum sein wohl bekanntester und wichtigster Text, "Rom, Blicke", der sich an sein letztes, 1973 vom WDR gesendetes Hörspiel "Besuch in einer sterbenden Stadt" anlehnt. "Ich will werden, was immer das ist", schreibt er hier programmatisch. Dem untergehenden Abendland gleich erscheint ihm Rom wie eine zerfallende Welt. Statt der großen Geschichte der Stadt bemerkt er nur noch anonyme, gesichtslose Massenmenschen in Ruinenfeldern und Trümmerlandschaften. Tatsächlich ist "Rom, Blicke" ein einziger Abgesang auf die Zivilisation, eine alptraumartige Mischung "gefrorener Gegenstände" und dennoch Brinkmanns subtilster Blick auf Gewalt und Chaos, politische Unterdrückung und deformierte Sexualität: ein "Anti-Geschichtsbuch" im besten Sinne und gleichzeitig die verzweifelte Identitätssuche eines Dichters, der letztlich an seiner unstillbaren Sehnsucht nach Leben zerbrochen ist.


 
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