© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Zukunftsfähigkeit
Karl Heinzen

Das moderne Rußland hat aus seiner Geschichte gelernt. Es setzt nicht mehr auf eine militärische oder ökonomische Aufholjagd, sondern auf eine solche in den Köpfen. Wie weit man hier schon gekommen ist, beweist eine Umfrage, die unter Schülern in Südrußland durchgeführt wurde: Kein einziger von ihnen erkannte, so die Bild-Zeitung, den "Revolutions-Star" Lenin auf dem ihm vorgelegten Foto. Einige sollen ihn sogar mit dem Konterrevolutions-Star Boris Jelzin verwechselt haben, andere tippten auf einen Filmregisseur oder den Moskauer Bürgermeister.

Sollte dieses Fehlen historischer Spezialkenntnisse auf eine entsprechende Weichenstellung der Bildungspolitik zurückzuführen sein, so hätte sich jene ausnahmsweise einmal als weitblickend und verantwortungsvoll erwiesen. Wer die Menschen dazu bringen will, sich einer ungewissen und auf jeden Fall unangenehmeren Zukunft zu stellen, muß ihnen zuallererst die Flucht in die Geschichte verwehren. Die Vergangenheit ist heute zu komplex, um mit ihr die relativ überschaubaren Machtverhältnisse unserer Gegenwart legitimieren zu können. Die Arbeit an einem tolerablen Geschichtsbild ist daher nicht nur sehr aufwendig, sondern vor allem gefährlich. Niemand weiß, wohin historisches Bewußtsein führt, aber man ist gut beraten, das Allerschlimmste oder wenigstens das Schlimmste zu befürchten. Schon die Denkbewegung "zurück" ist problematisch. Da wäre es in der Tat auch bei uns an der Zeit, endlich einmal darüber nachzudenken, ob die Erinnerung an die Vergangenheit in Schule, Universität und Gedenkwesen wirklich eine authentische Staatsaufgabe ist, die Jahr für Jahr Steuermilliarden beanspruchen darf.

Gerade wir in Deutschland sollten uns dieser unangenehmen Frage nicht verweigern, so sehr dies auch liebgewonnene Rituale unserer Annäherung an das, was war, in Mitleidenschaft ziehen könnte. Ohne einer trügerischen Normalisierung oder einer fadenscheinigen Histori- sierung Vorschub leisten zu wollen, müssen wir überprüfen, ob die vielfältigen Mittel überhaupt einen Zweck erreichen, der gerechtfertigt werden kann. Was ist denn davon zu halten, wenn Hitler durch die akkumulierten Bildungsinvestitionen von mehr als einem halben Jahrhundert zwar der unbeliebteste, zugleich aber der bekannteste Mensch des 20. Jahrhunderts ist? Wer kennt hingegen heute noch Kiesinger und Heinemann? Und wer wird in zehn Jahren noch Kohl und Weizsäcker kennen?

Die Last der Geschichte: Vielen jungen Menschen werden heute Lebenschancen geraubt, weil die mittelbar oder unmittelbar erzwungene Beschäftigung mit der Vergangenheit ihnen jene Zeit nimmt, die dort fehlt, wo es gilt, sich das Wissen von morgen anzueignen. Zukunft fängt da an, wo Vergangenheit aufhört: Dies sollte die Politik auch bei uns endlich beherzigen. Das russische Beispiel zeigt, daß die Vergangenheit uns nicht auch noch in unseren Köpfen einholen muß.


 
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