© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000


Tschetschenien ist erst der Anfang
Rußland: Die österreichische Außenministerin Ferrero-Waldner als OSZE-Chefin auf Moskau-Besuch
Carl Gustaf Ströhm

Als vor zwei Wochen Österreichs Außenministerin Benita Ferrero-Waldner zuerst mit dem designierten russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammentraf und anschließend dem verwüsteten Tschetschenien einen Besuch abstattete, war die Situation höchst seltsam: Die österreichische Außenministerin agierte als turnusmäßige Vorsitzende der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) – und ihre Aufgabe konnte wohl nur darin bestehen, die Russen mehr oder weniger energisch wegen ihrer brutalen Kriegführung in Tschetschenien abzumahnen. Zumindest theoretisch lagen sogar Sanktionen gegen Moskau als ultima ratio in der Luft.

Zugleich aber war Frau Ferrero-Waldner als österreichisches Regierungsmitglied selber Sanktionen unterworfen – nämlich der 14 EU-Staaten. Die von Sanktionen Bedrohte Wienerin hätte also ihrerseits ihre russischen Gastgeber mit Sanktionen bedrohen können (was sie natürlich nicht tat) – und der russische Gastgeber taxierte die Situation ganz richtig ein: Er behandelte die Abgesandte aus Wien mit fast väterlichem Wohlwollen und ließ nebenbei verlauten, Rußland halte ohnehin nichts von Sanktionen – obwohl, wie von russischer Seite abschwächend hinzugefügt wurde, die Aktion "vierzehn gegen einen" natürlich eine innere Angelegenheit der EU sei. Putin wußte genau, daß das Fünfzehner-Europa ihm gegenüber einer lahmen Ente glich: Es gab keinen gemeinsamen Nenner einer Rußland-Politik – außer der gemeinsamen opportunistischen Auffassung, mit den Russen möglichst gute Geschäfte zu machen und im Falle Tschetschenien alle Fünfe gerade sein zu lassen.Wenn es eines Beweises dafür bedurft hätte, daß von einer "gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" der EU nicht die Rede sein kann – hier wurde er noch einmal geliefert. Daß die OSZE wiederum nach der altbekannten Maxime verfährt, Gott sei im Zweifelsfall immer bei den stärkeren Bataillonen, ist auch keine Neuigkeit mehr.

Über die eigentliche Dimension des Tschetschenien-Konflikts machen sich die Westeuropäer kaum Gedanken. Es handelt sich hier nicht in erster Linie um einen nationalen Befreiungskampf - obwohl Elemente eines solchen präsent sind. Es geht auch nicht um den "Kampf gegen den Terrorismus", wie uns Moskau weis zu machen versucht (zum Teil ist das sogar gelungen – wie die einigermaßen skandalöse Zusammenarbeit des BND mit den russischen Geheimdiensten zeigt). Die Tschetschenen sind ein eigenartiger Menschenschlag, das hat schon Alexander Solschenizyn festgestellt, der sie wegen ihres ungebrochenen Widerstandsgeistes in den sowjetischen Lagern rühmte. Aber die Kehrseite der tschetschenischen Zähigkeit zeigt sich in der Neigung zu mafiotischen Strukturen – in dieser Hinsicht ähnelt dieses Nordkaukasus-Volk den Kosovo-Albanern oder auch den Bewohner Siziliens.

Die Mischung von Freiheitskampf und Verbrechen, Idealismus und Raffgier, die Verweigerung gegenüber allen zivilen Strukturen – das sind Eigenschaften, wie man sie auch anderswo findet: in Nordirland, im Baskenland, auf Korsika. Weder die reifen westlichen Gesellschaften noch der weitaus gröber agierende russische Bär sind bisher mit solchen Erscheinungen fertiggeworden.

Bei den Tschetschenen kommt hinzu, daß sie ihre "Zelte" gewissermaßen auf der welthistorischen Rollbahn zwischen Rußland (Moskau), Zentralasien und der islamischen Welt aufgeschlagen haben. Außerdem überschneiden sich in und um Tschetschenien seit dem Fall des Kommunismus strategische Erdöl-Interessen. Die Tschetschenen hatten schon einmal, 1942/43, versucht, die Gunst der weltgeschichtlichen Stunde für sich zu nutzen: Sie kooperierten mit der deutschen Wehrmacht, die das Kaspische Meer und die dort sprudelnden Ölquellen erreichen wollte. Die Rache Stalins war furchtbar: das ganze Volk wurde für vogelfrei erklärt. Die Bewohner der Ebene wurden in den sowjetischen Norden und Osten deportiert, die Männer kamen fast alle in die Konzentrationslager. Die Bewohner der Bergregionen, in denen es keine Straßen und Eisenbahnen und damit keine technische Voraussetzung für den Abtransport gab, wurden von sowjetischen Spezialtruppen in ihren Gebirgsdörfern eingekreist, in ihre Häuser gejagt – und die Häuser wurden anschließend in Brand gesteckt. Tausende von Tschetschenen kamen grausam ums Leben. Wer heute von tschetschenischem Terrorismus und tschetschenischer Mafia spricht, sollte diesen Hintergrund nicht ganz außer acht lassen.

Die Tatsache, daß sich seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion der kaspisch-kaukasische Raum in einer Art Machtvakuum befindet, macht die Situation noch komplizierter. Die Amerikaner haben ihre strategischen Erdölinteressen am Kaspischen Meer und in Zentralasien. Sie wollen verhindern, daß Moskau in der Nähe der kaspischen Erdölfelder wieder strategisch Fuß fast. Sie wollen andererseits auch einer islamischen Zusammenarbeit in diesem Raum einen Riegel vorschieben.

Für die USA sind die Krisenregionen zwischen Balkan und Kaukasus und weiter in die zentralasiatischen Staaten ein zusammenhängender Gürtel. Bosnien und Kosovo einerseits, Tschetschenien, der Kaukasus und das Kaspische Meer sind Dominosteine, die gemeinsam stehen oder fallen. Amerika verfolgt eine Doppelstrategie: Einmal zu verhindern, daß die russische Machtpolitik an der Adria, im Schwarzen Meer und im Kaspischem Meer wieder Fuß fast. Daher der Versuch, Belgrad von der Adria (Bucht von Kotor/Catarro) fernzuhalten – etwa durch Separation Montenegros. Zum andern versucht Washington, den durchaus autoritären Regierungen von Georgien (Schewardnadse) und Aserbaidschan den Rücken zu stärken.

Moskau wiederum muß, wenn es als Großmacht ernst genommen werden will, den Kampf um die Beherrschung des Kaukasus und des kaspischen Gebiets wieder aufnehmen. Die Bereitschaft, Tausende junger Russen in einem scheinbar sinnlosen Vernichtungskrieg zu opfern und weite Landstriche des eigenen Territoriums durch eigene Truppen zu verwüsten, entspringt nicht nur irrationalen Ideen russischer Generäle von Ehre und Vaterland. Es ist ein Kampf um die Rückgewinnung des eigenen Machtstatus. Insofern kann man der Region weit über Tschetschenien hinaus leider kaum eine ruhige Zukunft voraussagen. Der Konflikt wird weiter schwelen – und eines Tages, vielleicht, wenn man es am wenigsten erwartet, wieder offen aufbrechen.

Eines ist sicher: Sollte es den Russen gelingen, das Kaukasus-Problem in ihrem Sinne zu lösen, wäre auch das nicht ein Schritt in Richtung Saturierung und Ruhigstellung des russischen Bären. Dann käme womöglich das Baltikum an die Reihe – oder die Ukraine. Als Präsident Putin vor einigen Tagen bei seinem weißrussischen Amtskollegen Lukaschenko in Minsk weilte, sprach man bereits von gemeinsamen Grenztruppen an der Westgrenze Weißrußlands. Damit würden russische Soldaten erstmals seit dem Zerfall der Sowjetunion wieder an der Ostgrenze Polens auftauchen – und Warschau ängstigen.

Es wäre völlig verkehrt, Tschetschenien als einen wildromantischen bis mafiösen Einzelfall zu betrachten, dem der Westen offiziell mit lahmen pro-forma Protesten einerseits und Geheimdienstintrigen gegen sogenannte Terroristen andererseits beikommen könnte. Das zerschossene Grosny ist zur strategischen Drehscheibe und zum Angelpunkt von Machtinteresse geworden. Die Träger dieser Machtinteressen - seien es die militant-moslemischen Tschetschenen oder das von seiner Mission beseelte Rußland, werden vor Gewalt nicht zurückscheuen, ob das die Westeuropäer nun mögen oder nicht.


 
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