© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
Angriff auf die französische Zentralmacht
Bretonische Freiheitsbewegungen wehren sich seit Jahrzehnten gegen die Ausrottung ihrer Kultur
Gert Tevenar

In einer gar nicht so lange zurückliegenden Vergangenheit lernten die französischen Schulkinder, daß ihre Heimat schon deshalb das Vorbild aller Nationen sei, weil sie nicht nur im Hinblick auf Sprache, Kultur und Staat eine harmonische Einheit bilde, sondern ihre Grenzen die fast geometrische Form des Sechsecks bildeten und damit die Übereinstimmung zwischen den Gesetzen des Geistes und der Natur aufs schönste zum Ausdruck brächten.

"Natürliche Grenzen" sind eine typische cartesianische Idee. Sie existieren so wenig wie die bis heute in Paris behauptete Homogenität der französischen Nation. Vor einigen Jahren erschien ein Buch, das den "Mythos des Sechsecks" demontierte. "Mythos" wollte der Verfasser im Sinn von "Lüge" verstanden wissen, und er legte dar, daß an jeder Außengrenze Frankreichs eine "Minderheit" – eigentlich ein eigenes Volk – lebt, das sich nur schwer als "französisch" bezeichnen läßt: im Westen die Basken, im Süden die Okzitanier und die Korsen, im Osten die Elsässer, die Lothringer und die Flamen, im Norden die Normannen und die Bretonen. Der Verfasser war Bretone, er hieß Olier Mordrel.

Der bretonische Kampf um Selbständigkeit hat eine lange Geschichte. Jetzt scheint er in eine neue Phase eingetreten zu sein. Hinter dem Anschlag auf das Lokal der amerikanischen Fast-Food-Kette "McDonald‘s" im französischen Quévert nördlich von Dinan, bei dem eine junge Frau ums Leben kam, wird eine "Armée Révolutionnaire Bretonne" (ARB) vermutet. Der bei dem Attentat verwendete Sprengstoff könnte außerdem als Verbindung zwischen ARB und ETA zu werten sein und als Signal dafür verstanden werden, daß nunmehr nicht nur auf Korsika, sondern auch im Nordwesten Frankreichs militante Separatisten versuchen, ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen.

Terroristische Methoden spielten bisher nur vorübergehend – in den dreißiger und in den siebziger Jahren – eine Rolle für die bretonische "Bewegung". Unter dem Kürzel ARB entstand schon 1974 eine "Armée républicaine bretonne" als bewaffneter Arm der Gruppe "Libération nationale et socialisme" bzw. des "Front de libération de la Bretagne" (FLB). Die heutige ARB steht der radikal-separatistischen "Emgann" ("Kampf") nahe . In jedem Fall hat sie aber nur eine Minderheit unter den bretonischen Autonomisten auf ihrer Seite. Deren Spektrum reicht von den "Föderalisten" bis zu den "Nationalisten", deren Differenzen nicht nur durch verschiedene Endziele bedingt sind – Umbildung Frankreichs in eine "Bundesrepublik", Aufgliederung Europas in "Regionen", ein selbständiger Staat "Breizh" (keltisch für Bretagne) –, sondern auch durch ideologische Unterschiede – zwischen Traditionalisten, "Kulturalisten" und "Völkischen" – verursacht werden, die bis in die Anfänge der Bewegung zurückverfolgt werden können.

Diese Anfänge sind in dem Selbständigkeitsbewußtsein der bretonischen Führungsschicht zu suchen, die trotz der Angliederung des bis dahin souveränen Herzogtums Bretagne an Frankreich im Jahre 1532 Privilegien und ständische Rechte des Landes verteidigte. Durch die Revolution bekam die Unbotmäßigkeit noch einen besonderen Akzent, weil man sich nicht nur gegen den neuen wie den alten Zentralismus wehrte, sondern viele Bretonen außerdem gegen die gottlosen Königsmörder in Paris an Glauben und Krone festhalten wollten; die Bretagne war neben der Vendée das wichtigste Gebiet mit einer royalistischen Massenbasis und bis in die napoleonische Ära Schauplatz zahlreicher Aufstände gegen das revolutionäre Regime.

Kulturnationalismus
als wichtige Triebfeder

Während des 19. Jahrhunderts wurde das Moment der Beharrung ergänzt um neue Impulse, die aus der "Keltischen Renaissance" kamen und von den britischen Inseln auf das Festland übergriffen, wo in der Bretagne das größte keltischsprachige Gebiet neben Irland existierte. Ein Kulturnationalismus, der die eigene Identität und den katholischen Glauben gegen die wuchernde Französisierung und Säkularisierung bewahren wollte, war damals die wichtigste Triebfeder für eine "Erste Bewegung", in der neben dem konservativen Adel und vielen Geistlichen das selbstbewußter auftretende Bürgertum eine Rolle spielte. Zahlreiche Konflikte mit der Zentrale in Paris und den staatlichen Stellen in der Provinz, die den Willen der Ministerien exekutierten, waren vorprogrammiert.

Ein Aufkleber mit dem Satz "Il est interdit de parler breton et de cracher sur la terre" ("Es ist verboten, bretonisch zu sprechen und auf den Boden zu spucken") mag heute den Touristen amüsieren, war aber – als Schild in den Klassenzimmern angebracht – für die französische Verwaltung der Bretagne ebenso bitterer Ernst wie das gleichfalls bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durchgehaltene Prinzip, daß auf Grabsteinen in der Bretagne keine bretonischen Vornamen stehen durften.

Im Grunde war die "Erste Bewegung" keine politische, ihre Forderungen gingen selten über das Verlangen nach Gleichberechtigung und Anerkennung der besonderen Traditionen hinaus; der 1911 gegründete Strollad Broadel Breiz – Parti Nationaliste Breton gewann kaum größere Bedeutung, wie überhaupt ein "Nationalismus" im genauen Sinn des Wortes, also das Verlangen nach Anerkennung der Bretonen als selbständiges Volk und Errichtung eines bretonischen Staates, sogar unter Aktivisten auf wenig Verständnis hoffen konnte.

Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, der eine deutliche Verschiebung der Akzente innerhalb der Bewegung zur Folge hatte. Nachdem verschiedene Appelle an den amerikanischen Präsidenten Wilson während der Friedensverhandlungen von 1919, den Bretonen das von ihm feierlich proklamierte "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu gewähren, ohne Erfolg geblieben waren, bildeten sich in den zwanziger Jahren Zirkel, die die Idee eines bretonischen Nationalismus tatsächlich zum Ausgangspunkt einer politischen Massenbewegung machen wollten. Hier entstand eine Ideologie, die auf die keltische Herkunft der Bretonen wesentlich größeren Wert legte als auf deren katholischen Glauben, die wohl die eigene Sprache – deren Rückgang bedrohliche Ausmaße angenommen hatte – als hohes Gut betrachtete, allerdings der Errichtung eines eigenen Staates ungleich mehr Gewicht beimaß, die aber vor allem "volkstümlich" in dem Sinn war, daß sie den alten – den französisch-republikanischen wie den bretonisch-konservativen – Eliten mit Skepsis gegenüberstand.

Diese Skepsis wurzelte nicht zuletzt im Zorn über die Opfer, die der Weltkrieg unter der bretonischen Bevölkerung gefordert hatte – insgesamt 260.000 Gefallene. War von den bretonischen Mädchen, die auf Stellungssuche nach Paris kamen, gesagt worden, daß sie bestenfalls als Dienstmädchen oder Huren taugten, so schienen die bretonischen Bauern in erster Linie geeignet, Kanonenfutter für ihre französischen Kommandeure abzugeben. Der neue bretonische Nationalismus der Zwischenkriegszeit war keineswegs pazifistisch, fragte aber danach, ob nicht bretonisches Blut für die Sache bretonischer Feinde vergossen wurde. Das erinnert an eine ähnliche Argumentation des flämischen Nationalismus, der sich in Reaktion auf das Schicksal der flämischen Soldaten, die unter wallonischer Führung standen, gebildet hatte.

Zwar gewann der bretonische "Frontismus" niemals die Anziehungskraft des flämischen, aber ein Teil seiner Anführer hat wie ein Teil der flämischen die Schlußfolgerung gezogen, daß aus eigener Kraft das Ziel der Separation nicht zu erreichen sein werde. Als geeigneter Verbündeter erschien hier wie dort Deutschland.

Es war schon das nationalsozialistische Deutschland, auf das sich die Hoffnungen in den dreißiger Jahren richteten, aber die Köpfe der Strollad Broadel Breiz – Parti Nationaliste Breton waren keine "Faschisten", eher Nationalrevolutionäre, deren Bedenkenlosigkeit in der Wahl des Alliierten vor allem auf die verzweifelte Lage zurückzuführen war, in der sie sich sahen: Sie waren nicht nur mit den gemäßigten Kräften der "Zweiten Bewegung" zerstritten und hatten sich dem französischen Staat offen entgegengestellt, sie schwankten zudem zwischen der Vorstellung von einem bewaffneten Kampf nach Muster der irischen Republikaner und dem Konzept einer "Machtergreifung", die auf die Bretagne begrenzt bleiben sollte.

Im Ergebnis wurde ihnen die Entscheidung abgenommen durch die Zuspitzung der allgemeinen politischen Lage. Von den Behörden wegen ihrer Agitation gegen den Krieg – den sie allein als eine Angelegenheit Frankreichs betrachteten – unter Anklage gestellt, flohen die beiden wichtigsten Führer des Parti National, Olier Mordrel und Fransez Debauvais, im August 1939 nach Berlin; in Abwesenheit verurteilte sie ein Militärgericht zum Tode. Ausgerechnet in dieser Situation eröffnete sich die Perspektive auf die Erfüllung aller Träume, die die bretonische Bewegung je gehabt hatte: nachdem die Wehrmacht den größten Teil Frankreichs besetzt hatte, wurde eine selbständige Bretagne ausgerufen.

Am 3. Juli 1940 erklärte ein kaum erkennbar legitimierter "Bretonischer Nationalrat" in Pontivy, er werde die Souveränität der Halbinsel "zu einer von ihm selbst gewählten Stunde" proklamieren. Daraus ist trotz aller Bemühungen eines kleinen Kreises von keltophilen Offizieren nichts geworden; die deutschen Stellen waren kaum interessiert, die französische Führung unter Marschall Pétain durch die Unterstützung von Separatisten zu verstimmen, und Hitler hatte lediglich Interesse an einer Grenzkorrektur in Ostfrankreich, für die romantische Vorstellung von der Freiheit kleiner Völker fehlte ihm natürlich jeder Sinn.

Allerdings muß man sich auch die Frage vorlegen, wie realistisch die Pläne der Nationalisten waren, selbst wenn die deutschen Stellen sie dauerhaft unterstützt hätten; in einem Bericht der damals in der Bretagne stationierten 6. Armee hieß es: "In breiten Schichten der Bevölkerung steht man den Autonomiebestrebungen teilnahmslos, zum Teil ablehnend gegenüber. Anerkennung bretonischer Eigenart und gewisse Selbständigkeit auf kulturellem Gebiet sind zwar gewünscht, das Bestreben nach politischer Selbständigkeit hat aber offenbar nur wenig Anhänger."

Die an dem bretonischen Abenteuer Beteiligten erlitten ganz unterschiedliche Schicksale: Debauvais, der unmittelbar nach der Bildung des Nationalrates erkrankt war, starb 1944 an Tuberkulose, Mordrel mußte bei Kriegsende fliehen und wurde 1946 ein zweites Mal zum Tode verurteilt, nach Jahrzehnten im Exil hat er seine Heimat erst 1972 wiedergesehen. Alle Kollaborateure aus den Kreisen der bretonischen Bewegung sahen sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer scharfen Verfolgung ausgesetzt, die Idee der Autonomie schien fast völlig diskreditiert. Diskreditiert, aber nicht ausgelöscht. Neben die rasch wiederbelebten Versuche zur kulturellen Selbstbehauptung traten seit den sechziger Jahren jene Gruppen bretonischer Nationalisten, die allerdings anders als ihre Vorgänger in der Zwischenkriegszeit eindeutig der politischen Linken zuzuordnen waren: ihre Bretagne sollte nicht nur souverän, sondern auch sozialistisch sein.

Die stärkste dieser bretonisch-nationalistischen Gruppen ist die 1964 gegründete "Union pour la Démocratie bretonne" (UDB), die heute vor allem in den (schwachen) Organen der bretonischen Selbstverwaltung vertreten ist und nicht nur die Benachteiligung durch die französische Zentrale anprangert, sondern auch die besonderen wirtschaftlichen Interessen der Region – der bretonischen Bauern, der bretonischen Fischer und der Industriearbeiter, die durch die strukturelle Erwerbslosigkeit, die Fangquoten der Europäischen Union und den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft ihr Einkommen verlieren – vertritt. Zu den prominentesten Mitgliedern der UDB gehört der Sänger Alan Stivell, der nicht nur für die Pflege der keltischen Musiktradition, sondern überhaupt für die Popularisierung des bretonischen Gedankens sehr viel getan hat.

Autonomismus blieb ohne durchschlagenden Erfolg

Seine eigentliche Blüte erlebte der linke bretonische Autonomismus in den siebziger und achtziger Jahren, als es ihm gelang, eine breite Anhängerschaft gegen die Pläne der französischen Regierung zum Ausbau der Atomanlagen in der Bretagne (der Name Plogoff wurde zum Symbol dieses Kampfes) und gegen die dauernde ökologische Gefährdung der Küste durch verunglückte Tankschiffe zu mobilisieren. Ein durchschlagender Erfolg blieb ihm aber versagt. Noch weniger Unterstützung erhielten die in der Illegalität nach dem Vorbild der IRA operierenden Gruppen, etwa die erwähnte ARB, die 1978 Aufsehen durch einen Anschlag auf das Schloß von Versailles erregte.

Die relative Schwäche des UDB und mehr noch der radikaleren Gruppen der bretonischen Bewegung hing auch damit zusammen, daß es der Bretagne in den letzten zehn Jahren, verglichen mit anderen Landesteilen – etwa Lothringen oder Regionen in Zentralfrankreich – relativ gut ging. Ursache war die wachsende Bedeutung des Tourismus. Wer vor fünfzehn oder zwanzig Jahren in die Bretagne fuhr, tat das als Einzelgänger, mit ähnlichen Motiven wie der Irlandreisende, den der Dauerregen von der grünen Insel nicht fernhalten konnte. Es gab natürlich auch damals schon die von den Franzosen gern besuchten Seebäder im Süden, aber ein großer Teil Armorikas war unerschlossen, "bewaldetes Land" eben. Man kam durch das Innere nur auf schlecht ausgebauten Straßen vorwärts und begegnete kaum einem anderen Fahrzeug, irgendwo lagen armselige Gehöfte, und Kinder standen barfuß davor.

Die Folgen des Wohlstands sind zweischneidig

Von solchen Szenen ist kaum etwas geblieben, aber die Folgen des neuen Wohlstands sind aus der Sicht der bretonischen Bewegung zweischneidig. Die saisonbedingte "Überfremdung" des Landes hinterläßt Spuren, drückt die kulturelle Überlieferung immer stärker auf das Niveau des Folkloristischen herab, und sogar der Autonomismus droht dieses Schicksal zu erleiden: Niemand kann sich mehr vorstellen, daß der gerade bei deutschen Touristen so beliebte Aufkleber mit den Buchstaben "BZH" für "Breizh" in den sechziger Jahren zur Verfolgung durch französische Behörden wegen des Verdachts auf hochverräterische Absichten führte.

Zu den Merkmalen aller regionalistischen Bewegungen in Frankreich gehört, daß sie gegen einen übermächtigen staatlichen und kulturellen Zentralismus ankämpfen müssen. Die Weigerung der Regierung, die Europäische Charta der Minderheitenrechte zu ratifizieren, spricht darüber hinaus eine deutliche Sprache. Gerade in der Bretagne hat man auf dem Gebiet der kulturellen Selbstbehauptung eine ganze Reihe von Erfolgen zu verzeichnen gehabt. Kindergärten und Vorschulen, in denen die bretonische Sprache gelehrt wird, eine unglaubliche Anzahl örtlicher Initiativen zur Pflege von Bodendenkmälern, historischen Stätten, Bräuchen und vor allem der Musik legen dafür Zeugnis ab.

In den letzten beiden Jahren ist auch die Teilnehmerzahl der interkeltischen Festspiele, die traditionell in Lorient ausrichtet werden, weiter deutlich gestiegen. Das scheint die Ungeduld der "militants" allerdings nur zu steigern. Die wenigsten von ihnen würden so weit gehen wie die ARB, geschweige denn Anschläge auf das Symbol des verhaßten amerikanischen Kulturimperialismus gutheißen, aber viele würden wohl die Auffassung teilen, die Emgann im vergangenen Sommer durch eine Propagandaaktion zum Ausdruck brachte: Da klebten die Aktivisten überall in den Ferienorten ein Plakat, das einen abgenagten Fisch in den Umrissen der Bretagne zeigte, dazu die Zeile: "En Bretagne on danse 3 mois – Pendant 9 mois on paye l’orchestre" – "In der Bretagne tanzt man drei Monate – Neun Monate bezahlt man das Orchester."


 
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