© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
Rußland will Gewaltopfer rehabilitieren
Oberst Kopalin in Schloß Wendgräben: Verschleppung der Deutschen war völkerrechtswidrig
Werner H. Krause

Rußland scheint zu einem bedeutsamen Schritt entschlossen. Er könnte für die deutschen Verschleppungsopfer von jenseits der Oder und Neiße durch die Sowjetunion zum Ende des Zweiten Weltkriegs von größter Tragweite sein. Auf einer Veranstaltung der Bildungsstätte Schloß Wendgräben der Konrad-Adenauer-Stiftung Anfang April teilte Oberst Leonid Kopalin, der als Leiter der Rehabilitierungsabteilung in Diensten der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Rußlands tätig ist, mit, daß Moskau kurz davor steht, die Verschleppung von Hunderttausenden von Deutschen zwischen 1945 und 1949 als einen Verstoß gegen das Völkerrecht zu bewerten.

Dies würde bedeuten, daß mehrere Millionen von Gewaltopfern künftig als völlig rehabilitiert anzusehen sind, was dann wiederum zwangsläufig ihre Entschädigung nach sich ziehen würde.

Die russische Rehabilitierungsbehörde wurde nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Auflösung des sowjetischen Staatswesens geschaffen, um Millionen Opfern des Stalinismus Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allein in der berüchtigten NKWD-Stätte Lubjanka, einer der größten Haftanstalten des kommunistischen Regimes, werden 25 Millionen Strafakten aufbewahrt. Bislang haben vier Millionen ehemaliger Sowjetbürger, die sich unter der Herrschaft des Kommunismus schlimmsten Repressalien ausgesetzt sahen, einen Antrag auf Rehabilitierung gestellt. Bis zur Stunde wurde 700.000 derartigen Rehabilitierungen entsprochen. Unter den Opfern, denen jetzt späte Genugtuung zuteil wurde, befindet sich auch einer der Söhne Stalins, der von seinem despotischen Vater gnadenlos verfolgt wurde.

Weiterhin existieren in Rußland rund sechs Millionen Kriegsakten. Nach Einrichtung der Rehabilitierungsbehörde wurden bei ihr Zehntausende von Anträgen auf Rehabilitierung sowohl von deutschen Opfern als auch Opfern aus weiteren 19 Staaten eingebracht. Insbesondere wandten sich Angehörige der deutschen Wehrmacht, die von sowjetischen Kriegstribunalen zu Unrecht schwerer Kriegsverbrechen bezichtigt und zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt wurden, an die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft, um eine Aufhebung dieser Urteile zu bewirken.

Nach der bisherigen russischen Rehabilitierungspraxis werden nur solche deutschen Antragsteller berücksichtigt – bis heute gingen12 .000 Anträge auf Rehabilitierung ein –, deren Verurteilung durch ein sowjetisches Militärgericht erfolgte. 8.000 dieser Anträge, so Oberst Kopalin, seien bis zum gegenwärtigen Moment positiv entschieden worden.

Als geradezu sensationell wurde im Schloß Wendgräben seine Aussage empfunden, daß von 376 in sowjetische Gefangenschaft geratenen deutchen Generälen 252 auf Anweisung des Politbüros der SED verurteilt wurden. Das Politbüro der SED stellte Listen jener deutschen Wehrmachtsgeneräle zusammen, von denen es wünschte, daß man sie schwerer Kriegsverbrechen beschuldigen sollte. Die Frage nach Schuld oder Unschuld habe dabei überhaupt keine Rolle gespielt. Absicht der SED sei es gewesen, durch Erzeugung von Furcht und Terror andere deutsche Wehrmachtsoffiziere für ihre Zwecke entsprechend zu präparieren und gefügig zu machen. Die beabsichtigte Aufstellung einer eigenen Armee, so hatte Walter Ulbricht erkannt, würde sich ohne erfahrenes Offizierskorps der Wehrmacht nicht bewerkstelligen lassen.

Obwohl heute die meisten russischen Archive der zeitgenössischen Forschung offenstehen, so war zu erfahren, gilt dies jedoch nicht für den "Geheimsten Tresor Rußlands". In ihm werden die 377 Befehle Stalins (Ukas Nr. 1– Ukas 377) aufbewahrt, die vor und während des Zweiten Weltkriegs erlassen wurden. Sie könnten auch darüber Aufschluß erbringen, inwieweit die Sowjetunion von einem bestimmten Zeitpunkt an eigene Angriffspläne gegen Deutschland in die Wege geleitet hat. Auch der Geheimbericht an Stalin über die Zwangsarbeit der deutschen Kriegsgefangenen, durch welche die ungeheure Leistung von 50 Milliarden Rubel zustande kam, harrt noch der Veröffentlichung.


 
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