© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Der Rote Ken will das Rathaus stürmen
England: Die Oberbürgermeisterwahl von London ist nicht spannend – aber amüsant
Michael Walker

Die Wahl des Londoner Oberbürgermeisters hat sich in den letzten Wochen zu einer klassi-schen Seifenoper mit allen notwendigen Requisiten entwickelt: Dramatik, Intrige, menschliche Schicksalsfragen und sogar Sex.

Zur Vorgeschichte: Tony Blair, der offensichtlich unschlagbare, allseits beliebte britische Premierminister, beschloß die Wiedereinrichtung der Londoner Stadtverwaltung unter dem Namen "Greater London Assembly", nachdem Margaret Thatchers Regierung den "Greater London Council" (GLC)1986 abgeschafft hatte. Dieser neuen Verwaltung soll ein gewählter Bürgermeister vorstehen. Unter den Mitgliedern der Labour Party, die sich gegen Blairs Plan aussprachen, tat sich ein gewisser Ken Livingstone hervor, einstiger Vorsitzender des GLC und zum Zeitpunkt der Entscheidung ein bescheidener Labour-Abgeordneter. Tony hat sich wohl vom Rummel der amerikanischen Politik mitreißen lassen – wie dem auch sei, er wollte partout nicht auf die Warnungen hören, sondern setzte einen Plan durch, der sich für ihn durchaus als Anfang vom Ende entpuppen könnte.

Ursprünglich sollte der Kandidat der Labour Party nach einem bemerkenswert einfachen Prinzip gekürt werden, bei dem jedem Londoner Parteimitglied eine Stimme zugekommen wäre. Für dieses "eine Stimme pro Mitglied"-System entschied sich der Parteivorstand im Juli vergangenen Jahres. Als jedoch wenige Monate später aus Umfrageergebnissen hervorging, daß Ken Livingstone die Nominierung praktisch schon in der Tasche hatte, änderte die Regierung ihre Meinung und dachte sich statt dessen einen überaus komplizierten Auswahlprozeß aus. Dank Prozentrechnungen und Stimmblöcken waren bald sämtliche Klarheiten beseitigt; der einzige Vorteil dieses Verfahrens lag darin, daß es auf geschickte Weise sicherstellte, daß Ken Livingstone auf keinen Fall gewählt würde.

Wer ist dieser Ken Livingstone und was macht ihn so wichtig, daß Tony Blair bereit ist, sich lächerlich zu machen, nur um seine Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters zu verhindern? Ken Livingstone ist ein eigensinniger Linksaußen mit exzentrischen Gewohnheiten und Ansichten. Nicht nur, daß er Lurche als Haustiere hält – schlimmer noch: Er hält dem Sozialismus die Treue, während seine ehemaligen Genossen die Freuden der freien Marktwirtschaft entdeckt haben. Als Vorsitzender der Londoner Stadtverwaltung von 1981 bis 1986 war er ein ebenso beliebter wie verhaßter Gegenspieler der Thatcher-Regierung. Er sanierte die öffentlichen Verkehrsmittel, indem er einen Einheitspreis für die Londoner U-Bahn einführte, und erließ ein nächtliches Fahrverbot für Lkw, das er mit den Worten verteidigte: "Schließlich verdienen Arbeiter, die jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen müssen, ihre Nachtruhe!" Er solidarisierte sich mit einer Reihe teils recht bizarrer linker Initiativen wie zum Beispiel "Babies gegen die Atombombe" oder der "Kooperative türkischer Mütter" und lud die irischen Sinn Fein zu "informellen Gesprächen" nach London ein. Ein Herz für die IRA zeigte er des öfteren, und auch für Kriminelle schien darin noch reichlich Platz zu sein. Zumindest kritisierte er die Polizei immer mit sehr viel mehr Inbrunst, als er gegenüber irgendeinem Gesetzesbrecher jemals an den Tag legte.

So wenig Mühe sich der "Rote Ken" gab, seine Sympathien für die Sache des irischen Republikanismus zu verbergen, seine Sympathie für die Palästinenser trug er noch offenkundiger zur Schau. Eine solche Position galt in der großen britischen Politik bislang als unerhört. Während seiner Amtszeit leuchteten allnächtlich die provozierend in Neon angestrahlten Arbeitslosenzahlen vom Dach des Rathauses über die Themse hinüber, an deren anderem Ufer die Parlamentsgebäude stehen. Livingstone trug dafür Sorge, daß sie jeden Tag auf den neuesten Stand gebracht wurden. Um ihn endlich loszuwerden, griff Thatcher schließlich zu einer Radikalkur und schaffte gleich die gesamte Stadtverwaltung ab. Die verschiedenen Kampagnen des "Roten Ken" hatten ihn zu einer Art "Londoner Robin Hood" werden lassen. In den letzten, vergleichsweise ruhigen Jahren seiner Karriere als gewöhnlicher Labour-Parlamentarier glätteten sich die Wogen um ihn etwas, und er vollzog sogar ansatzweise eine politische Wende, indem er die Bombardierung Serbiens unterstützte und zugab, daß eine zentralisierte Wirtschaft ihre Probleme hat. Die Londoner Bürgermeisterwahlen haben ihn wieder voll ins Rampenlicht gestellt, und er genießt es. Zwar bestehen noch einige Unklarheiten über die genauen Zuständigkeiten, aber eins steht fest: Ihm wird eine wichtige diplomatische Rolle zukommen, und seine Ansichten werden Schlagzeilen machen.

Nachdem Ken Livingstone dank des neuen Wahlverfahrens seine sicher geglaubte Kandidatur knapp an den von Blair favorisierten Frank Dobson verloren hatte – einen Mann, den die eher linke Zeitschrift Tribune ironisch als "den einzigen Pudel, der einen Bart trägt" bezeichnete –, entschloß er sich, als Unabhängiger zu kandidieren: "Ich sehe mich gezwungen, zwischen der Partei, die ich liebe, und den demokratischen Rechten der Londoner Bürger die Wahl zu treffen."

Von seiten der Labour-Spitze erfolgte eine geradezu hysterische Reaktion: Ein Parteisprecher erklärte vor laufenden Fernsehkameras, Livingstone sei "ein verräterischer Bastard, und das dürfen Sie gerne zitieren". Tony Blair gab seinerseits zu Protokoll, daß Livingstone als Oberbürgermeister eine "totale Katastrophe" wäre. Vorwürfe, daß er sein Wort gebrochen hatte, indem er als Unabhängiger kandidierte, nachdem er seiner Partei zugesagt hatte, dies nicht zu tun, beantwortete er mit für einen Politiker untypischer Ehrlichkeit: "Ich mache keine faulen Ausreden, sondern ich entschuldige mich." Als The Times ihn fragwürdiger finanzieller Machenschaften beschuldigte, verklagte Livingstone sie deshalb nicht, weil dies zu zeitaufwendig und teuer sei. "Statt dessen stelle ich mich dem Urteil von fünf Millionen Londoner Bürgern." Denen scheint sein naßforsches Auftreten zu gefallen.

Was immer man von dem "Roten Ken" halten mag, provokant ist er allemal: Israel ist ein "faschistischer" Staat, und die Drahtzieher innerhalb des Internationalen Währungsfonds sollen "unter Schmerzen in ihren Betten sterben". Erst kürzlich ließ sich Livingstone im New Musical Express zu der Aussage hinreißen, der Kapitalismus habe "mehr Menschenleben gefordert als der Zweite Weltkrieg". Hitler konnte "zu seiner Verteidigung anbringen, daß er verrückt war – die Chefs der Weltbank nicht"! Aber am meisten liebt ihn das Wahlvolk als jemanden, der sich schon einmal einem arroganten Premier widersetzte und jetzt dabei ist, dies wieder zu tun. Die Briten mögen einen "Bolschi-Bastard" wie den "Roten Ken", der das Establishment auf die Schippe nimmt. Selbst viele Konservative werden ihr Kreuz bei ihm machen. Im Gegensatz zu anderen Linken wird Livingstone seinen politischen Gegnern gegenüber niemals ausfällig, und sein Sinn für Humor ist stets offensichtlich. Seiner Selbstdarstellung zufolge hat er kein anderes Bestreben, als den Armen zu helfen, indem er von den Reichen stiehlt, und sich für die Londoner einzusetzen. Neue aufsehenerregende Vorhaben sind schon ans Tageslicht gekommen: Livingstone will eine Machbarkeitsstudie in bezug auf "Staugebühren" für private Pkw in Auftrag geben, die werktags die Straßen der Stadt benutzen. Politische Lobbyisten sollen aus dem Rathaus verbannt werden. Der Privatisierung der U-Bahn will er entgegenwirken. Die Rechte der Homosexuellen sollen noch mehr ausgeweitet werden. Dobsons Versuch, Livingstone als Kandidat für mehr innere Sicherheit entgegenzutreten, ist an der Art und Weise gescheitert, wie Tony Blair die ganze Affäre gehandhabt hat. So ist es Dobson nicht gelungen, sein Image als "Blairs Pudel" abzuschütteln, und laut Umfragen hat der "Rote Ken" einen Vorsprung von dreißig Prozent.

Hier zeigt sich, wie sehr in der Bevölkerung das Vertrauen auf die Parteien geschwunden ist. Noch vor 15 Jahren wäre die Entscheidung, als Parteiunabhängiger zu kandidieren, politischer Selbstmord gewesen. Heute jedoch scheint der "Heimvorteil" zu einem ausschlaggebenden Faktor in der britischen Politik geworden zu sein.

Die Konservativen schickten nach dem Skandal um ihren ursprünglichen Kandidaten – den Erfolgsschriftsteller Jeffrey Archer, der sich nach seinen früheren Karrieren als Philanderer, Betrüger, Bankrotteur und enger Freund Margaret Thatchers nun auch in der Politik versuchen wollte – halbherzig den völlig unbekannten Gebrauchtwagenhändler Steve Norris ins Rennen.


 
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