© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Die Kunst der Isolation
von Andreas Razumovsky

Wenn heute schon ein voreiliges Urteil der Historiker gefällt werden müßte, ginge der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel als Held in die Annalen zumindest seiner Partei ein, und gelte wohl auch den Wählern als ein standhafter Patriot. Das war nicht abzusehen. Am 3. Oktober 1999 hatte er die größte Niederlage seiner Österreichischen Volkspartei (ÖVP) bei Parlamentswahlen zu verantworten gehabt, und am 3. Februar 2000 hatte er, von seinen Anhängern insgeheim ermutigt, die "Große Koalition" erst einmal gesprengt, welche die Entwicklung des österreichischen politischen Systems zu einer parlamentarischen Demokratie nach westlichem Vorbild stets blockiert hatte. Damit hat er genau das Übel des gemeinsamen Eigentums der "Roten" und der "Schwarzen" über den Staat abgeschafft, das der Leitartikler Barazon in den Salzburger Nachrichten kühl und präzise gebrandmarkt hatte: "In den vierundfünfzig Nachkriegsjahren lebten die beiden vierunddreißig Jahre in offiziell deklarierter und in der übrigen Zeit in inoffiziell praktizierter Koalition".

Gerade weil die Sozialisten am 3. Oktober ebenfalls das schlechteste aller Resultate seit 1945 eingefahren hatten, glomm in ihrem Lager die Glut des Unglaubens an die Möglichkeit jeglicher neuer Konstellation. Noch immer hatte die bloße Drohung mit der bewährten "Faschismus"-Keule genügt, für den Fall, daß die ÖVP-Oberen sich tatsächlich überlegten, mit der einzig in Frage kommenden Alternativ-Formation, den "Freiheitlichen", einen gemeinsamen regierungsfähigen Bürgerlichen Block zu bilden. Vorbeugend hatte man ja schon vor den Wahlen altbewährte Kampfgenossen im Kampfe für das Gute und gegen das Böse aus der Reserve aufmarschieren lassen. Der Altkanzler und Klima-Vorgänger Vranitzky forderte im Sex&Fun-Magazin News vom Wähler, das von ihm so erfolgreich ausgebaute System der SPÖVP-Alleinherrschaft nicht anzutasten: "Unser System muß immer wieder erneuert, es darf aber niemals aufgegeben werden, sonst haben wir nämlich gar keines, in dem ein Mensch mit Gefühl, Anstand und Prinzipienfestigkeit leben möchte."

Franz Vranitzky gilt gegenwärtig in Wien, als der Expolitiker mit dem höchsten Einkommen: aus seinen Pensionen als Regierungschef und Bank-Generaldirektor und seinen Bezügen als Konsulent einer deutschen Großbank, auf deren Kosten er, so behaupten diejenigen, die ihn jetzt sowohl vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß wie vor ein Strafgericht zitieren werden, einige dreißig Privatflüge im Werte einiger Dutzend Millionen Schilling ausgegeben hat. Sein unmittelbarer Vorgänger als Chef der SPÖ und der österreichischen Regierung, Sinowatz, mußte 1986 zurücktreten. Damals kam es zu einem öffentlichen Skandal, als in mehreren höchst unerquicklichen Strafprozessen es sich als zuletzt höchstinstanzlich gerichtsnotorisch erwiesen hatte, daß er, Sinowatz ("ohne Partei bin ich nichts"), über seine Beteiligung an der Verleumdungskampagne gegen den ÖVP-Kandidaten Waldheim als "Nazi", im späteren Verlauf gar als "Kriegsverbrecher", gelogen hatte.

Gerade jenes Jahr 1986 versteht sich in der österreichischen Nachkriegsgeschichte als ein besonderes "Schicksalsjahr". Es ist das Jahr des Vorspiels zum häßlichsten und international folgenreichsten aller "typisch österreichischen" Skandale: der Waldheim-Affäre. Gerade weil sie, wie wir noch sehen werden, niemals "bereinigt" worden ist, frißt sie sich wie ein Wurzelbrand bis heute unter dem Boden Österreichs weiter. Gerade in den letzten Monaten hat sich ihre Aktualität bewährt. Als Probegalopp zur gegenwärtigen Krise, dieser höhnischen paneuropäischen Harlekinade um und gegen die Regierung Schüssel.

Wer sich mit einiger Distanz und Gelassenheit mit politischen Vorgängen befaßt, hat gelernt, daß es sich dabei um nichts anderes handelt als um das Bedürfnis von Einzelpersonen und ganzen mehr oder weniger organisierten Gruppen nach Macht. Die Kunst des Politikers gerade auch in parademokratischen Gesellschaften besteht darin, dem Volk, der Staatsnation, bestenfalls dem Wähler zu suggerieren, es sei dessen "Wille", die bestehende Herrschaft zu akzeptieren, ihr gar zuzujubeln, spontan und "solidarisch" ihre Perpetuierung zu fordern, statt, wie es in gefestigten Demokratien üblich ist, nolens volens dem Wähler sein von niemandem bestreitbares Recht zu überlassen, das regierende Team abzuwählen und damit ein zweites, bisher in Opposition verharrendes Team an die Macht zu bringen.

Gerade dadurch, daß der standesbewußte Staatsbürger gemeinsam mit anderen von seinem Recht zur Abwahl des gegenwärtig herrschenden Teams Gebrauch macht, trägt er das Wichtigste überhaupt bei zur Garantie und Aufrechterhaltung der bürgerlichen Freiheiten in seinem Land: weil die bloße Gefahr für das jeweils regierende Team A, bei den nächst anstehenden Parlamentswahlen durch das Team B abgelöst zu werden, die beste, jedenfalls die einzig einigermaßen erfolgversprechende Institution darstellt, die üblichen Auswüchse, die Hoffahrt, die Korruption, einigermaßen kurzzuhalten. Mit diesen Institutionen der demokratischen Machtkontrolle durch den souveränen, verantwortungsbewußten Bürger verfügen alle demokratisch-parlamentarischen Staaten über Verfassungen, Gesetze, ungeschriebene Regeln und Traditionen. In Österreich gibt es dies alles in der Theorie auch. In der Praxis aber hapert’s damit, wie man erfahren kann, wenn man die Jahre der "Zweiten Republik" Revue passieren läßt.

Die einmal als Herrschaft etablierte Clique hat eine ganze Meute zum Feinde, deren einziges Endziel ist, sich selbst, unter Ausnutzung aller von der Verfassung oder vom Nichtvorhandensein oder Nichtfunktionieren einer Verfassung gegebenen Mittel, an deren Stelle zu setzen. Die in Österreich seit 1945 de facto alleinherrschende SPÖVP-Clique und deren einzelne Mitglieder hatten mehrfach voneinander unabhängige, aber doch aufeinander bezogen operierender Feinde. Zunächst in den ureigensten Reihen: so sind vermittels Palastintrigen die Vorsitzenden ("Obmänner") der christlichsozialen Volkspartei einer nach dem anderen, quasi über Nacht, solchen Machtnationen geopfert worden. Zweitens natürlich die nicht minder verbissenen Feinde beim (Koalitions-) Partner. In den letzten Jahren verfügte die SPÖVP-Alleinherrschaft über eine bequeme Zweidrittelmehrheit im Parlament; dementsprechend sind in diesen Jahren der Ära Vranitzky/Klima, offiziellen Angaben zufolge, anderthalb tausend Gesetze im Verfassungsrang verabschiedet worden. Hinter dem Parlamentsplenum, in den Ausschüssen, aber ebenso in der Öffentlichkeit, in den Medien, hat in diesen Jahren zwischen S und Ö der binnenkoalitionäre Bürgerkrieg geherrscht. Neunzig Prozent der auf beiden Seiten des gemeinsamen Lagers eingebrachten Energie sind in den täglichen zähen, haßerfüllten Kämpfen vernichtet worden.

Als ein weiteres Konglomerat von Feinden ist naturgemäß die jeweils etablierte, aus negligierbaren Grüppchen zusammengesetzte parlamentarische Opposition zu nennen: deren periphere Kaum-Existenz, von der SPÖVP intern allenfalls als Vorzeige-Beweis für die "demokratische Vielfalt" mißbraucht, intern jedenfalls "nicht einmal ignoriert" worden, wie man es in Wien nennt. Der jähe Aufstieg der "Freiheitlichen" unter Jörg Haider ist unter den Herrschenden rundheraus unterschätzt, mißachtet, allenfalls im Einklang mit einem großen Teil der "Medien" verhöhnt, "vernadert" worden, wie ebenfalls in Wien gern gesagt wird. Die FPÖ ist eine in der Tat effiziente, d. h. den Anspruch auf unlimitierte und unbefristete Alleinherrschaft konkret herausfordernde und abstreitende Macht. Gerade den unermüdlich wortreichen "Leitartiklern" Österreichs, die ja weiterhin abhängig von der Gunst, sprich "Presseförderung" des jeweils etablierten Regierungsteams bleiben werden, ist ein kollektiver Kardinalfehler unterlaufen: die Unterschätzung der unter Umständen katastrophalen Wirkung, die eintritt, wenn zwei ja keineswegs unauslotbare Feinde der Herrschaft in bestimmten Situationen sich verbinden: die Opposition und das Volk.

Daß "das Volk" sich zum gefährlichsten Feind der etablierten Herrschaft mausern kann, kennt jedermann aus dem Verlauf der "Revolutionen". In etablierten und einigermaßen funktionierenden Staaten weiß jedermann, daß es passieren kann, daß am Abend nach allgemeinen Wahlen "das Volk", für diesen einen Moment mit der Opposition verbündet, das herrschende Team auf die harte Bank der Opposition versetzt. Wie man versuchen kann, die Masse der Wähler bei der Stange zu halten, mit volkstümlich heimatverbundenem Herumhüpfen, mit dem Anstimmen entsprechender Folklore im Trachtenjanker, das hat besonders Wolfgang Schüssel vor den letzten Wahlen im vergangenen Herbst dem Fernsehzuschauer vorgetanzt. Das sind überkommene Beschwörungsrituale, doch weniger wirksam als die Auftritte bei den "Fernsehduellen".

Wohl der "Gesellschaft", die über die geordneten Konventionen verfügt, die dafür sorgen, daß die unterlegenen wie die siegreichen Parteien und Seilschaften physisch intakt auf ihren neuen Plätzen Unterkunft finden. Wie das vorgeht, wenn die Mechanismen der demokratischen Macht-Wachablöse noch nie wirklich funktioniert haben, kann man jetzt in Österreich erleben. Der exil-wienerisch amerikanische Schrifsteller Frederic Morton hat dieser Tage in Radio Wien, von der Interviewerin nicht eingeplant, über die brüllende Demo-Masse auf dem "Heldenplatz" bemerkt, seine Begleiterin habe sich gewundert, wo und wie der Pöbel so rasch die Hakenkreuz-Fahnen verstecken könne: sie habe geglaubt, bei diesem zusammengerottet radauenden Mob handle es sich um jene Neonazis, von denen in amerikanischen Blättern so ausgiebig-anschaulich zu lesen gewesen war.

Als vor vierzehn Jahren den herrschenden Sozialisten der Kreisky-Nachfolge die Gefahr dämmerte, es könne zum ersten Mal seit 1945 der Kandidat der ÖVP, nämlich der pensionierte Generalsekretär der Vereinten Nationen Kurt Waldheim das Amt des Bundespräsidenten erringen, wurden Hals über Kopf alle irgend verfügbaren Mittel und Mechanismen zunächst der Verhinderungsversuche, später der nachträglichen Annullierung jedenfalls der internationalen "antifa"-Verleumdung, seitens der Sozialisten eingesetzt.

Über den Verlauf dieser Kampagne gibt es mittlerweile genug sine ira et studio zusammengetragene Literatur. Waldheim hatte es sich im Laufe seiner zehnjährigen Amtszeit in New York mit einflußreichen Kreisen verdorben, unter denen der "World Jewish Congress" (WJC) sich in die Frontlinie begab. Viele Jahre später, als die internationale Hysterie längst anderen hysteriogenen Ereignissen Platz gemacht hatten, interessierte sich der als CIA-Agent in Sachen Entnazifizierung besonders in Wien spezialisierte Amateurhistoriker John Mapother für die "Lynchjustiz der (amerikanischen) Medien" an Waldheim. Seine jahrelange Forschung habe diesbezüglich zu dem Schluß geführt, schreibt er, "daß die SPÖ bei ihrem Bemühen, den Jüdischen Weltkongreß als Hilfe in der Progagandakampagne gegen Waldheim in den Wahlkampf hineinzuziehen, auf der irrtümlichen Annahme ideologischer Parallelen basierte, im übrigen aber vor allem schlecht informiert und recht bedenkenlos war".

Mit der Presse-Präsentation seines Buches "Wie man auf die Watchlist kommt" in deutscher Übersetzung im Herbst 1997 verbinde ich eine Erinnerung, die mir für die innere politische Verfassung dieses Landes exemplarisch deucht: diesem Event gab der damals wie heute zweitmächtigste Mann der damals wie heute mitregierenden ÖVP, Andreas Khol, die Ehre. Er lancierte damit einen weiteren Schritt zur Rehabilitierung des in einer wüsten internationalen Verleumdungskampagne gedemütigten Waldheim. Ich habe Khol damals die Frage gestellt, was die ÖVP bisher getan habe, und was sie eventuell von nun an zu unternehmen gedenke, um diesen Pensionisten Waldheim von der berüchtigten Watchlist in Washington, auf welche er 1987 auf dringendes Insistieren des WJC und seiner Freunde in der SPÖ gesetzt ward, wieder streichen zu lassen. Schließlich fehlte er inzwischen wieder bei keinem öffentlichen Anlaß in Wien.

Die Antwort von Andreas Khol auf diese Frage hat mich über den Zustand der österreichischen Innenpolitik mehr belehrt als dicke Bücher: er sei hier erschienen als Akademiker und nichts als Politiker; dies sei eine politische Frage und auf politische Fragen weigere er sich hiermit zu antworten. Fertig. Auf der gleichen Schiene der Unfähigkeit und Feigheit gegenüber der Urangst davor, was wohl "das Ausland über uns denken" möge, ist die Nicht-Rezeption des wichtigsten Buches über die Waldheimaffäre, der überaus sorgfältig gearbeitete Bericht des Advokaten des WJC, Eli Rosenbaum ("Betrayal – The untold story of the Kurt Waldheim Investigation and cover-up", New York 1993). Mit durchgesetzt zu haben, daß dieses Buch auf deutsch nie erschienen und somit vor den österreichischen Lesern ferngehalten wurde, brüstet sich gar mancher unverbrüchlich dem Klassenkampfe treue Wiener Politologe. Rosenbaum beschreibt ausführlich, wie er vom WJC den Auftrag mit auf den Weg bekommt: "Wir brauchen ein Dokument, das beweist, daß Waldheim den Befehl gegeben hat, Juden umzubringen!"

In Rosenbaums Buch kann jeder nachlesen über das hier in Wien "emsig in Waldheims Vergangenheit scharrenden Netzwerk aus den Reihen der regierenden Sozialisten, die ja allen Grund hatten, den Präsidial-Kandidaten der Opposition zu diskreditieren". Man trifft da auf so manche auch noch heute agierende öffentliche Figuren und ganze Redaktionen, wie die des hier peinlich diskreditierten bunten Magazins Daß bis heute noch kein deutschsprachiger Verlag sich dieses Buches Rosenbaums angenommen hat, aus dem doch bis ins Detail zu entnehmen ist, wie damals der Probegalopp der "Menschen mit Gefühl, Anstand und Prinzipienfestigkeit" Vranitzkys ihre Herrschaft zu perpetuieren wußten, mag verwundern. Wolfgang Schüssels Probleme werden durch die bewährte, international bewirkte Haß-Kumulation noch weiter wachsen: er scheint nicht mitbekommen und nicht begriffen zu haben, daß die vier Monate, die er mit den Sondierungsgesprächen und den unverbrüchlich beschworenen Oppositionsankündigungen vertrödelt hat, die Systematisierung des neuen Feldzuges aller Antifaschisten der Welt gegen Österreich erst ermöglicht hat. Über die Rolle des Waldheimnachfolgers Klestil wird sich noch mancher den Kopf zerbrechen. Man wird dann einige Sätze in den "Themen seines Lebens" nachlesen müssen, in denen er klagt über "jenen Orkan von Angriffen, Verdächtigungen und Verleumdungen", dem er damals, als Botschafter in Washington, vergeblich entgegenzutreten versucht habe. "Zweifellos war die ‚Watchlist‘, auf die man den inzwischen zum Bundespräsidenten gewählten Dr. Waldheim gesetzt hatte", erinnert sich Klestil 1997, "die größte Enttäuschung meiner beruflichen Laufbahn...".

Unter den Tausenden von Stellungnahmen dieser Tage hat mich am meisten die des Jerusalemer Journalisten und Diplomaten Ari Rath beeindruckt: Ihn erinnere die gegenwärtig kalt lancierte Haß- und Wut-Orgie, die auf den Straßen geprobten Auftritte des Mobs, die von ignoranten Kommentatoren schon als "Civil Society" gepriesen werden, an die 30er Jahre Österreichs, "wenn die Schwarzen und die Roten noch bewaffnet wären, würden sie wieder aufeinander schießen."

 

Andreas Graf Razumovsky war von 1988 bis 1996 Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen in Österreich. Der 1926 in Mähren geborene und heute in Wien lebende Autor arbeitete für die FAZ seit 1956 vierzig Jahre als Auslandskorrespondent u. a. in Holland und Südafrika.


 
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