© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Die Kleinen sollen draußen bleiben
Das nordrhein-westfälische Wahlrecht bevorzugt die etablierten Altparteien
Volker Kempf

Die wichtigste Wahl des Jahres ist die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai. Das liegt allein schon an der Größe des Landes, das 18 Millionen Einwohner beziehungsweise 13 Millionen Wahlberechtigte zählt. Aber auch der Umstand, daß in Nordrhein-Westfalen wie auf Bundesebene eine rot-grüne Koalition regiert, gibt der Wahl eine besondere Bedeutung. Jürgen Möllemann hat bereits die rot-gelbe Option ins Spiel gebracht. Damit nicht genug, wird mit Spannung beobachtet, inwieweit sich die CDU mit ihrer neuen Führung, vornan Angela Merkel, von Helmut Kohls Spendenskandal erholt hat. Umfragen zufolge bringt der Wechsel an der Spitze der CDU drei bis fünf Prozentpunkte. 1995 erzielte die CDU 37,7 Prozent, die SPD 46 und Bündnis 90/Die Grünen 10 Prozent. Die FDP verfehlte den Einzug in den Landtag.

Mit Meinungsumfragen wurde in den letzten Wochen reichlich Stimmung gemacht. Nur bei einer von Emnid im Auftrag der CDU durchgeführten Befragung ergab das Stimmungsbild wenige Wochen vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden großen Volksparteien. Alle anderen Umfragen sahen die SPD in der Nähe der 50-Prozentmarke; die CDU liegt bei unter 40 Prozent. Bündnis 90/Die Grünen schwächeln. Laut Umfrage ist schließlich ein Stimmenschwund der Partei auf etwa fünf bis acht Prozentpunkte ausgemacht worden. Für Überraschung könnte der auffällig hohe Anteil an unentschlossenen Wählern sorgen, der zwei bis drei Wochen vor der Wahl bei ungefähr 30 Prozent lag.

Die Sozialdemokraten profitieren vom Ansehen ihres Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, der in der Beliebtheit beim Wahlvolk Herausforderer Jürgen Rüttgers weit hinter sich läßt. Mit seiner Kampagne "Kinder statt Inder" beziehungsweise "Ausbildung statt Einwanderung" hat Rüttgers das zentrale Thema im Wahlkampf vorgegeben. Die Republikaner versuchen diesen Umstand zu nutzen, indem sie sich den Wählern als das Original präsentieren. Denn nach Ansicht der Spitzenkandidatin der Republikaner, Uschi Winkelsett, versucht Rüttgers nur "eine Neuauflage des Wahlbetrugs", den Roland Koch in Hessen mit seiner Doppelpaß-Kampagne begangen habe. So werben die Republikaner auf ihren Plakaten unter Verwendung von Rüttgers Motto "Kinder statt Inder" mit der Aussage, zu halten, was andere nur versprechen. Nach Angaben der Republikaner übertreffe der Zuspruch, den die Partei im ausgehenden Wahlkampf erlebt habe, alle Erwartungen. Auch von den Spendenaffären hofft die Rechtspartei zu profitieren. Bei der letzten Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland erzielten die Republikaner ein Ergebnis von lediglich 0,8 Prozentpunkten. Unter den nicht im Bundestag vertretenen Parteien waren die Republikaner damit aber immer noch die stärkste Kraft, gefolgt von der Partei Die Grauen um Trude Unruh mit 0,7 Prozent der Stimmen und der ÖDP mit 0,3 Prozent.

Der Hauptgegner der kleinen, nicht im Bundestag vertretenen Parteien ist in Nordrhein-Westfalen das Landeswahlgesetz, das mit seinem Einstimmenwahlrecht den begründeten Verdacht auf Vorteilnahme der etablierten Kräfte weckt. Denn auf dem Stimmzettel erscheint eine Partei nur in den Wahlkreisen, in denen sie auch mit einem Direktkandidaten aufwarten kann. Dafür sind pro Wahlkreis 100 Unterschriften von stimmberechtigten Bürgern auf einem besonderen Formular zu sammeln, eine Arbeit, die die Kräfte von kleinen Parteien extrem beansprucht. Um flächendeckend, das heißt in allen 151 Wahlkreisen gewählt werden zu können, sind von einer Partei über 15.100 Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten aus den dazugehörigen Wahlkreisen vorzuweisen. Dies hat in NRW in den letzten Jahren keine Partei geschafft. Die meisten kleinen Parteien können daher nur in einigen Wahlkreisen antreten und haben somit nicht den Bruchteil einer Chance auf Einzug in den Landtag. Daher steht beispielsweise auf dem Stimmzettel für den Wahlkreis 01 Aachen von den 15 nicht im Bundestag vertretenen, aber mit einer eigenen Landesliste antretenden Parteien nur die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD). Graue und ÖDP haben angesichts dieser Erschwernis auf eine erneute Wahlteilnahme verzichtet. Vom Bund Freier Bürger (BFB) fehlt jede Spur. Einzig den Republikanern gelang es, mit 132 Direktkandidaturen annähernd eine flächendeckende Wählbarkeit zu erreichen. Sie steigerten sich damit gegenüber 1995, als nur 105 Wahlkreise besetzt werden konnten. Selbst die PDS, die als im Bundestag vertretene Partei gar keine Unterstützungsunterschriften sammeln mußte, tritt in nur 148 der 151 Wahlkreise an. Beachtlich, daß links von der PDS die MLPD antritt und nach den Republikanern die meisten Wahlkreise mit Direktkandidaten besetzen konnte. Die DKP versucht zudem in 15 Wahlkreisen ihr Glück.

Gegen das Einstimmenwahlrecht bei Landtagswahlen will die nordrhein-westfälische ÖDP nach der erfolgreichen Klage gegen die kommunale Fünf-Prozent-Sperrklausel im bevölkerungsreichsten Bundesland den Landtag abermals in die Pflicht nehmen. Auch das Verbot, Wählerinitiativen nur über Direktbewerber, nicht aber über eine Landesliste zur Wahl zuzulassen, ist den nordrhein-westfälischen Öko-Demokraten ein Dorn im Auge. Erhält ein unabhängiger Wahlkreiskandidat in seinem Wahlkreis eine Stimme, wird diese nur einmal gezählt, bei einer Partei mit Landesliste jedoch zweimal. Für die ÖDP ein klarer Verstoß gegen das Prinzip der "gleichen" und "freien" Wahl. Diesen Verfassungsbruch müsse der Landtag heilen, freiwillig, wie die Partei zunächst hofft.

Nach Darstellung der ÖDP sind also Zweifel angebracht, ob die Wahlen am 14. Mai wirklich in einem verfassungsrechtlichen Sinne "gleich" und "frei" sind. Ein vergleichbares Wahlrecht hat neben den Stadtstaaten nur das Land Baden-Württemberg vorzuweisen – auch so ein "Saurier", wie die Westdeutsche Zeitung von den Nachzüglern in Sachen Weiterentwicklung der Demokratie kürzlich urteilte.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen