© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Das dritte Rom gewinnt wieder an Kraft
Rußland: Die Orthodoxe Kirche vor der Wiederauferstehung
Marco Serbanescu

Das politische Leben in Rußland, ja das Leben in Rußland überhaupt, wird zunehmend klerikalisiert. Schon 1991 ließ sich Jelzin, als er damals das Präsidentenamt antrat, vom Patriarchen segnen, und die Fernsehbilder der letzten orthodoxen Weihnachtsfeier zeigten alle politischen Köpfe versammelt, selbst Kommunisten.

Zwar ist es seit 1993 den Geistlichen verboten, politische Ämter zu übernehmen, doch versäumt der Patriarch Alexej II. nebst anderen Würdenträgern keine Gelegenheit, sich politisch zu äußern, was heißt, die Politik des Kreml zu unterstützen. Ob das allein mit den umfangreichen finanziellen Hilfen zusammenhängt, die die Kirche nun vom russischen Staat erhält, ist zu bezweifeln, die Gründe dürften vielschichtiger und auch tieferer Natur sein. Bezeichnenderweise segnete der Patriarch von Moskau auch kürzlich die russischen Armeeeinheiten in Tschetschenien, womit man ganz offensichtlich an bestimmte Traditionen von Kirche und Armee im Zarenreich anknüpfen möchte. Tatsächlich kann man also seit einigen Jahren von einer Wiederauferstehung der Russisch Orthodoxen Kirche und ihres stetig wachsenden Einflusses auf das öffentliche Leben sprechen, was zum einen aus den Zahlen der theologischen Lehranstalten (von 5 auf heute 50) und Klöstern (von 18 auf heute 340) hervorgeht, zum anderen aus dem identitätsstiftenden Patriotismus, den sie ganz spürbar verbreitet.

Das größte und vielleicht symbolträchtigste Projekt, das diese Wiederauferstehung charakterisiert, dürfte der Wiederaufbau der Moskauer Erlöserkathedrale sein, der größten Kirche Rußlands. Sie wurde im 19. Jahrhundert als nationales Denkmal des Sieges über Napoleon errichtet und galt seither als Sinnbild der Einheit von Zarentum, Orthodoxie und Armee. 1931 ließ Stalin die Kathedrale sprengen und wollte dort einen "Palast des Sowjets" errichten, was aus technischen Gründen allerdings nicht ausgeführt werden konnte. Wo sich dann ein riesiges beheiztes Freibad befand, wurde 1995 mit dem Wiederaufbau der Kirche begonnen, die 1997 zur 850-Jahrfeier Moskaus äußerlich fertiggestellt war, wobei die Kosten durch Spendengelder beglichen wurden: Im November 1995 fanden im Rohbau zwei Benefizkonzerte statt, bei denen die billigste Eintrittskarte 1000 Dollar kostete – beide Konzerte waren ausverkauft.

Im öffentlichen Leben gewinnt die Russisch Orthodoxe Kirche folglich immer größeres Ansehen und immer größeren Einfluß (75 Prozent der Russen bezeichnen sich inzwischen wieder als der Russisch Orthodoxen Kirche zugehörig), was unter anderem auch darin begründet liegt, daß das einstige befreiende Schlagwort "Demokratie" seine Wirkung verloren hat: Kriminalität, Korruption, wirtschaftlicher Verfall werden heute dieser "Demokratiebestrebung" angelastet. Und so schnitt bei einer Umfrage, wem die Russen das meiste Vertrauen entgegenbringen, den Parteien, dem Präsidenten, dem Parlament, der Armee oder der Kirche letztere weitaus am besten ab.

Kein Wunder also, daß längst vergangen geglaubte Tendenzen wie Slawophilentum und orthodoxer Fundamentalismus zu neuem Leben erwachen, da sie den Menschen neuen Halt zu geben scheinen. Daß beide Komponenten stets zusammengehören, wird der verstehen, der weiß, daß Moskau ja religiös als das "dritte Rom" verstanden wird.


 
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