© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Pankraz,
Joseph Conrad und der schuldbewußte Lord Jim

Vor hundert Jahren, zu Ostern 1900, erschien in London ein Buch, das Pankraz immer unheimlich berührt und auch abgestoßen hat, das aber, findet er, eine höchst bedenkenswerte Lehre für die deutsche Gegenwart bereithält. Gemeint ist Joseph Conrads Roman "Lord Jim", jene wüste Story von dem ausgemusterten weißen Schiffsoffizier, der auf Sumatra zum Häuptling eines malayischen Dorfes aufsteigt, ihm manchen Vorteil zu verschaffen weiß – und am Ende dennoch die Katastrophe auslöst, weil er, statt den Forderungen des Tages nachzukommen, seine eigene Vergangenheit "bewältigen möchte", wie man heute sagt.

"Vergangenheitsbewältigung" als Unheilstifung: das ist es, was man bei der Lektüre von "Lord Jim" in aller Ausführlichkeit nacherleben kann. Lord Jim hat einst unter einem kriminellen Kapitän auf einem Seelenverkäufer Dienst getan, der islamische Mekkapilger beförderte. Als der Kahn leck schlug, hat Jim sich zusammen mit dem Kapitän und den übrigen Offizieren feige in den Booten davongemacht, die Passagiere ihrem Schicksal überlassend. Darunter also leidet er, das verfolgt ihn, deshalb hat er sich zum Beschützer eines "gelben" Dorfes aufgeschwungen.

Dann landet eine schiffbrüchige, halbverhungerte Verbrecher-Crew bei dem Dorf, die Dorfbewohner wollen mit ihr kurzen Prozeß machen, doch Lord Jim ist dagegen und sorgt für den unbehelligten Abzug der Bande, mit dem Ergebnis, daß diese ihrerseits gegen die Dorfbewohner aktiv wird und sie mit Mord und Plünderung überzieht. Lord Jim hat total versagt, die Gemeinschaft, für die er Verantwortung übernommen hatte, erschießt ihn.

Das Buch ist mittlerweile ein Klassiker der englischen Literatur, wenn auch ein Klassiker mit Hautgout. Der fiktive Rahmenerzähler spricht zwar ein edles, bemühtes, an Henry James geschultes Englisch, doch sonst wimmelt es auf den Seiten von Jargon und Stummelgrammatik, keiner der Beteiligten beherrscht eine Sprache ordentlich, Französisch, Deutsch und Portugiesisch gehen wild durcheinander, vermischen sich mit einer Art Pidgin-Englisch, wie man es damals auf den Schiffen und in den Häfen verwandte, und der Leser weiß nie: Spielt der Autor nun mit dem Jargon oder kann er es selber nicht besser?

Conrad war Pole, folgte als Kind seinen Eltern in die sibirische Verbannung, fuhr später als Schiffsjunge auf französischen Schiffen, wechselte zu den Engländern, erwarb bei ihnen seine Patente, lernte ihre Sprache – da war er schon weit über zwanzig. Er hat nie eine Zeile in seiner Muttersprache Polnisch veröffentlicht, wurde allerdings verständlicherweise auch im Englischen nicht wirklich heimisch, so daß das Gestelzte, Angelernte bei ihm immer direkt neben dem Jargon erklingt. Wirkliche Elastizität gibt es nicht, allem literarischen Ruhm, den dieser Autor erlangte, zum Trotz.

Wenn er hier und da als "Meister der englischen Sprache" apostrophiert wird, so liegt das an der Abenteuerlichkeit seiner Themen und Genres, dieser nervenden Meeres- und Hafenromantik, für die die Conradsche Diktion genau das Richtige ist. Der Inhalt findet die ihm für den Moment des Erzählens angemessene Form, aber diese Form ist nicht die Sprache, die man mit der Muttermilch aufgesogen hat und in der man vollkommen zu Hause ist, sondern eben das Pidgin, das Angelernte und nachträglich Verabredete und dadurch immer irgendwie Reduzierte, an das sich das feinere Ohr nie ganz gewöhnen kann.

Für Lord Jim, der ein Trauma, ein Urverbrechen "bewältigen" will, bedeutet die in Henry-James-Sprache und Seemannsjargon aufgeteilte Conrad-Diktion geradezu ein Menetekel. So wie diese Diktion letztlich nur zum Töntjes-Erzählen in der Hafenkneipe oder in der Offiziersmesse taugt, so taugt Jims ewiges Sichschuldigfühlen und Seelenlecken allenfalls zum Grillenfang, zum Schmetterlingsammeln; es ist ein genialer Einfall Conrads, daß er Jim im Auftrag des deutschen Großkaufmanns und Schmetterlingsammlers Stein in das malayische Schicksalsdorf Patusan gelangen läßt.

Jim soll dort lediglich die Geschäfte des Herrn Stein besorgen, soll Geld verdienen und Insekten fangen, und das wäre vielleicht auch gutgegangen, hätte er nicht den Ehrgeiz gehabt, etwas an den Gelben und Braunen "wiedergutzumachen", sich "aus eigener, bitterer Erfahrung" den Dörflern als Interessenanwalt anzudienen, sich von ihnen zum "Lord" machen zu lassen und ihnen im Büßerhemd Vorbild zu sein. Das führt dann direkt in die Katastrophe. Denn die Wirklichkeit der Interessen und des Überlebens ist nun einmal keine Angelegenheit für halbverblödete Vergangenheitsbewältiger, die immer nur ihre eigene verwundete, kostbar-verruchte Innerlichkeit im Sinne haben.

Sie helfen damit am Ende nur den Verbrechern, die brutal und genau kalkulieren und die Skrupel der Bewältiger rücksichtslos ausnutzen. Jeder Begriff von Gemeinschaft wird desavouiert, aber auch jeder Begriff von Rettung und Selbsterhaltung. Lord Jim bei Conrad hätte, nachdem er sein Dorf durch die Vorzugsbehandlung der Verbrecher ins Unglück gebracht hat, noch die Möglichkeit zur Flucht, seine Frau fleht ihn an, sich und sie zu retten – aber nein, Jim will sich vor den Dörflern "rechtfertigen", will mit ihnen über sein Trauma diskutieren. Da erledigen sie ihn denn. Was nützt ihnen ein "Lord", der ein Trauma hat?

Lord Jim ist übrigens, wie der Rahmenerzähler beiläufig verlauten läßt, ein Pastoren-Abkömmling, Sohn eines anglikanischen Dorfpfarrers. Das erklärt manches, wenigstens für die Zuhörer des im Klub sein Garn spinnenden Kapitäns Marlow. Pastorensöhne haben schon so manches blühende Gemeinwesen in die Bredouille geritten.

Und um auch dieses noch zu sagen: Die islamischen Pilger, die Jim damals auf dem lecken Schiff so schnöde im Stich ließ, sind nicht allesamt elend ertrunken. Die meisten wurden gerettet, was Lord Jim freilich nicht trösten konnte.


 
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