© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Ernst Jüngers Magister
Eine Erinnerung zum 25. Todestag des Philosophen Hugo Fischer
Tiana Berger

Als Hugo Fischer am 11. Mai 1975 im 76. Lebensjahr im oberbayerischen Ohlstadt starb, hätte dies niemand mehr öffentlich zur Kenntnis nehmen müssen. Er war ein vergessener Denker. Mitte der fünfziger Jahre aus dem indischen Benares zurückgekehrt, hatte er keinen Anschluß an die akademische Welt Westdeutschlands gefunden. Nur ein dünner Faden verband ihn seitdem mit der Universität München, doch im Grunde führte er das Leben, das er stets geführt hatte, die unterirdische Existenz des Privatgelehrten. Trotzdem waren dann zwei Nachrufer zur Stelle, die den Rang des Verstorbenen richtig einzuschätzen wußten. Armin Mohler rühmte ihn in der Welt als "großen geistigen Anreger in jenen für den deutschen Geist schicksalhaften Jahren vor und nach 1930". Fischer sei in so eminenter Weise eine "geistige Hebamme" gewesen, daß über ihn die Mär umlaufe, er habe Ernst Jünger nicht nur den "Frontsoldaten-Nationalismus" wegoperiert, sondern ihm beim "Arbeiter" die Feder geführt. Günter Maschke bestätigte in seiner Würdigung in der Frankfurter Allgemeinen, mit Fischer sei einer "der bedeutendsten Köpfe der ’Konservativen Revolution‘" dahingegangen.

Ein Vierteljahrhundert später sieht es so aus, als wären Mohler und Maschke die letzten gewesen sein, die sich zu Fischers geistesgeschichtlichem Marktwert kompetent zu äußern wußten. Niemand interessierte sich seither für diesen Denker. Piet Tommissen ist es immerhin zu danken, daß wir in den Briefwechsel zwischen Fischer und Carl Schmitt Einblick erhalten haben – ein Umstand, der die Verwunderung über die dominierende Ignoranz jedoch nur vergrößern müßte. Ein Philosoph, der Jünger befruchtet und der mit Schmitt eifrig korrespondiert hat, eine graue Eminenz der KR, und nicht die spärlichste Miszelle, die über ihn Auskunft gäbe?

Mag sein, daß Historiker gegenwärtig, wo man sich nach dem Motto erinnert: "Alles verstehen heißt nicht alles verzeihen, sondern alles vereinfachen", mit Fischers komplexer Existenz überfordert sind. Unzeitgemäße Annäherungen an einen Mann, dessen Dissertation den leitmotivischen Titel trägt "Das Prinzip der Gegensätzlichkeit bei Jakob Böhme" (Leipzig 1921) scheinen daher nur im Aufzeigen der Widersprüche statthaft.

Beginnen kann man mit jener Denunziation von NS-Seite im Jahre 1933, wonach der schwer kriegsbeschädigte Fischer während des Kapp-Putsches mit der Waffe in der Hand auf "kommunistischer Seite" gesehen worden sei. Sicher bezeugt ist hingegen nur der gegenrevolutionäre Einsatz in den Reihen der Leipziger Zeitfreiwilligen – 1919 gegen "Spartakus". Überliefert sind zahlreiche Anekdoten, die von der kindlichen Weltfremdheit des Philosophen erzählen, der als "Magister" durch die Tagebücher seines Freundes Jünger spaziert. Trägt er darum 1935 in den einschlägigen Fragebogen in die Rubrik "Politische Betätigung" nicht zu Recht mit schwungvoller Hand "Keine" ein? Ein ungefährlicher Mann, schon deshalb ohne Breitenwirkung, weil er, wie die NS-Dozentenschaft moniert, die Leipziger Studenten damit vergraule, daß er hemmungslos jeder Idee nachgehe, die ihm während seines chaotischen Vortrags einfalle. Und doch jemand, der in Ernst Niekischs Widerstand publiziert und noch 1934, als der Widerstandsverlag öfter Gestapo-Besuch erhielt, eine Studie über "Das Ende der Modernität" dort veröffentlichen wollte. Der unlesbar-verschraubte Monographien über Hegel und Nietzsche schreibt, aber als Mit-Herausgeber der Blätter für deutsche Philosophie (1928–1934) für eine Öffnung seines traditionell bewußtseinslastigen Faches hin zu den empirischen Sozialwissenschaften sorgt, und der 1932 eine Marx-Analyse publiziert ("Karl Marx und sein Verhältnis zum Staat"), die heute noch als gelungene Einleitung ins Werk des kommunistischen Erzvaters zu lesen ist. Ein Privatdozent im Umkreis jungkonservativer Protagonisten wie Hans Freyer und Gunther Ipsen, der gleichwohl einen Beitrag für die Festschrift des tschechischen Staatspräsidenten und Versailles-Profiteurs Thomas G. Masaryk (1930) liefert, und der in der linksliberalen Literarischen Welt des jüdischen Publizisten Willy Haas, einem Organ der auf der Rechten so geschmähten "Asphaltpresse", philosophische Essays unterbringt. Schließlich der Verfasser des geheimnisumwitterten Werkes: "Lenin – der Machiavell des Ostens", das der Verlag im März 1933 aus Angst vor der Beschlagnahmung kurz vor der Auslieferung einstampft – voreilig, wie sich später herausstellt, da weder Goebbels noch Rosenberg interveniert hätten.

Wer angesichts einer so heterogenen intellektuellen Biographie doch meint, einen roten Faden zu benötigen, mag Fischer als frühen Globalisierungstheoretiker bezeichnen. Wenn Jünger und Niekisch von erdumspannenden "Planstaaten" träumten, von "imperialen Figuren", dann profitierten sie von Fischers Projektionen. Schreiben konnte den "Arbeiter" zwar nur Jünger selbst, wie Mohler richtig anmerkte. Doch eben nicht ohne die analytischen Potentiale Fischers, die sich wiederum im soziologischen Institut Freyers, in Diskussionen und Forschungen über die Struktur der industriellen Moderne aufluden. Darauf aufmerksam zu machen, heißt sich zu erinnern, daß es dem Weltgeist gefallen hatte, im Leipzig der zwanziger Jahre eine seiner Dependancen einzurichten.

Der Aufsatz über den "guten Europäer Masaryk" öffnete innerhalb der KR übernationale Perspektiven politischen Denkens. Im Vielvölkerstaat CSR glaubte Fischer, den Nukleus der europäischen Einheit gefunden zu haben; metaphysisch aufgeladen mit dem Glauben an die "urchristliche Religiosität der Slawen. Affinitäten zu Niekischs Ostorientierung und dessen eigenwilligem Probolschewismus sind evident. Ebenso wie der Horror davor, das Schwergewicht der Erde könnte sich von Europa nach den USA verlagern. Natürlich sollte Fischers Europa antikapitalistisch strukturiert sein: "Ein neues föderalistisches Sozialrecht des europäischen Industrievolkes stehe am Anfang vom Ende des ökonomisch-liberalistischen Individualismus!"

Europa sollte "bündische Gestalt" gewinnen im Sinne einer Gemeinschaft der praktischen Arbeit, die das Irdische – Technik, Wirtschaft, Politik – in eine höhere Daseinsform "transsubstanzialisiert". Dies bleibt dann ein Kerngedanke der politischen Philosophie Fischers. Stets suchte er nach einem Träger "substanzieller Gemeinschaftlichkeit". Masaryks CSR schien bald diskreditiert, offenbar weil Fischer zu einem realistischeren Urteil über die repressive Prager Minderheitenpolitik gelangt war. Um 1932 verlagern sich seine Hoffnungen auf die UdSSR. Im "Lenin"-Buch wird die (nur auf dem Papier stehende) sowjetische Nationalitätenpolitik als moderne Variante mitteleuropäischer "Reichspolitk" idealisiert. Fischer verklärt Stalins Gulag-Reich zum "Bundesstaat höherer Ordnung". Dieser vermeintliche Prototyp des Planstaats verbürge den partikularen Kulturen ihre Existenzfreiheit, schütze sie vor dem unifizierenden Amerikanismus. Die Nationen in eine "höhere Geistesverfassung" zu transformieren, sei dann aber nicht Aufgabe der Russen, sondern die der Deutschen, sofern sie ihre "Reichsmission" wahrnähmen.

In den Passagen, die diese Vision von "Heimat" und "politischer Geborgenheit" nach dem Muster der antiken Polis und des staufischen Reiches (als das deutsche Volk vorgeblich schon einmal ganz "bei sich zu Hause" gewesen sei) beschwören, nähert Fischer sich Ernst Blochs "Geist der Utopie". Und nicht etwa dem "Dritten Reich" des Nationalsozialismus, vor dem er 1939 nach Norwegen und über England schließlich, zu "Sanskritstudien" wie er dem Berliner Kultusministerium ausrichten ließ, nach Indien ausweicht.

An die politische Reichsmission der Deutschen glaubte er zu dieser Zeit schon lange nicht mehr. Die sah er durch die völkisch-nationale Reduktion der NS-Reichsidee für erledigt an. Aus Benares brachte er dann die modifizierte Idee der "universalen und gerechten Kulturordnung nach indischem Vorbild" mit. Indiens Rechtsordnung bewahre die Großfamilie und das traditionelle Bauerntum als Fundamente des wünschbaren "Makrokosmos aller menschheitlichen Kulturen und Religionen". Damit sei die eigenständige ethnische Invidualität inmitten der Modernisierung gesichert, ohne die es keine höhere Lebensform gebe.

Carl Schmitt gegenüber formuliert Fischer 1933 die für ihn zentrale Frage: "Wie wird der gegenwärtige Mensch damit fertig, daß es in der Welt keine höheren Einwirkungen mehr gibt?" Er antwortete darauf seit 1930 mit verschiedenen Konzeptionen einer "Metaphysizierung der Politik", die mehr intendierten als bloß die "Humanisierung" der Zivilisation. Dieser Primat der religiös-kulturellen Regeneration geht zwangsläufig zu Lasten des politischen Realismus. Sein letztes großes Werk, "Vernunft und Zivilisation" (1971) nennt Fischer darum konsequent eine "Antipolitik". Von Hegel, Marx und Nietzsche bezog Fischer das Besteck, um die Begriffs- und Bilderwelt der Moderne zu sezieren, ebenso die Impulse für seine Anstrengungen zur Wiederverzauberung der Welt. Dieses idealistische Erbe präformiert Fischers antipolitischen Utopismus. Es prädestinierte ihn zum politischen Theologen, einer sehr deutschen Prägung des gelebten Widerspruchs.


 
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