© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Selbstbestimmung ist unteilbar
von Horst Rudolf Übelacker

Wenn "Demokratie" Volksherrschaft bedeutet, wenn das Volk politisch frei entscheiden kann und wenn das Volk in freier Entscheidung seinen eigenen Staat errichtet und verwaltet, so befinden sich Volk und Staat, Kultur und Sprache in völliger Übereinstimmung, und der Wille des Volkes mündet in und stimmt überein mit den staatlichen Entscheidungen. Der Idealfall des "Volksstaates" ist gegeben; seine Aufgabe nach außen besteht – wie bei jedem anderen Staat – darin, sich in freier Selbstbestimmung einem Bündnissystem zuzuwenden oder neutral zu bleiben. Im Inneren ist er souverän, seine eigenen Angelegenheiten kulturell, verwaltungsmäßig, finanziell eigenständig zu regeln, und ist dabei Drittstaaten gegenüber grundsätzlich durch das völkerrechtlich anerkannte Prinzip der "Nichteinmischung" geschützt.

Anders ist die Situation, wenn mehrere Völker bzw. Volksgruppen sich freiwillig zu einem Staat zusammenschließen (zum Beispiel Schweiz) oder durch Fremdentscheidung in einen Staatsverband hineingezwungen werden (zum Beispiel Tschechoslowakei, Jugoslawien, UdSSR, Rußland). Bei den letztgenannten Beispielen kommt es aus der Sicht und Interessenlage der einzelnen Völker und Volksgruppen entscheidend auf die Gewährung von existenzsichernden Rechten an: auf Volksgruppen- und Minderheitenrechte, auf Autonomie- und Selbstverwaltungsrechte, sofern die Voraussetzungen dafür, etwa durch geschlossene Siedlungsgebiete, gegeben sind.

Bei den palästinensischen Siedlungsgebieten in Israel konnte gegenüber dem Staat – nach jahrelangen, zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis – ein palästinensisches Autonomiestatut ertrotzt werden. Dies ist nach dem Willen der Palästinenser aber noch nicht der Endpunkt der Entwicklung, die vielmehr noch in diesem Jahre zur Ausrufung eines souveränen Palästinenser-Staates führen soll und damit zur Loslösung der Palästinenser-Gebiete von Israel. In Indonesien haben wir erst kürzlich – nach blutigen Unruhen und einer tiefgreifenden Staatskrise – einen Anwendungsfall der Gewährung von Selbstbestimmungsrecht in Form der Anerkennung der Souveränität eines abgetrennten, verselbständigten Gebietsteils erlebt: die Souveränität Ost-Timors.

Ein weiteres Modell der Abtrennung und gleichzeitigen Vereinigung mit einem anderen Staat bietet die Sudetenfrage: die Lösung der Sudetenkrise des Jahres 1938 erfolgte nach dem Willen der unterdrückten und selbstbestimmungsberechtigten Sudetendeutschen durch Abtrennung der Sudetengebiete von der Tschechoslowakei bei gleichzeitiger staatsrechtlicher Vereinigung des Sudetenlandes mit dem Deutschen Reich – ein eindeutiger Anwendungsfall des Selbstbestimmungsrechts bei gleichzeitiger völkerrechtlicher Anerkennung durch die übrigen drei Signatarmächte des Münchener Abkommens (Italien, Frankreich, Großbritannien) und durch die betroffene CSR (Prager Abtretung vom 19./21. September 1938). Dies führt zur Interpretation des Selbstbestimmungsrechts im Mehrvölkerstaat als grundsätzlich "ruhendes Recht", das im Konfliktfall, zum Beispiel bei Nichtgewährung von Volksgruppen- und Minderheitenrechten und bei willkürlicher Unterdrückung eines Bevölkerungsteils zum Vollrecht des Sezessionsrechts erstarkt.

Ein solcher Fall liegt bei Tschetschenien vor, dessen Autonomierecht von Rußland mit Füßen getreten wurde und dessen Bevölkerung – ohne jedwede Schonung von Zivilisten – in zwei mörderischen Kriegen gezielt und gewollt dezimiert worden ist. Dies alles geschah unter den Augen einer bestenfalls deklamierenden, im Ergebnis aber tatenlosen Staatenwelt. Welches Recht außer Selbstbestimmung im Sezessions-Modell könnte hier eine friedenserhaltende Lösung auf Dauer gewährleisten?

Dem völkerrechtlichen Prinzip der "Nichteinmischung" entspricht das Abwehrrecht des souveränen Staates gegen Fremdeinwirkung, zugleich das Recht, sich gegen jede ihrer Einwirkungsformen zur Wehr zu setzen. Dies kann im Zurückweisen beeinträchtigender Fremdansprüche in öffentlicher Form oder auf diplomatischem Wege geschehen, aber auch – und dies insbesondere bei offenen Grenzen – in der Einreisehinderung "Fünfter Kolonnen" bzw. ihrem Abschub.

Ein Beispiel besonderer Art bietet in unseren Tagen die souveräne und demokratisch verfaßte Republik Österreich. Dieses (nettozahlende) EU-Mitgliedsland wird derzeit in zweifelsfrei unzulässiger Weise von außen wie im Inneren unter Druck, wie ein Seuchenherd "unter Quarantäne gestellt", mit dem Ziel, die nach demokratischen Wahlen vom 3. Oktober 1999 nach Koalitionsverhandlungen vom Staatspräsidenten rechtmäßig "angelobte" ÖVP/FPÖ-Bundesregierung rechtswidrig zu stürzen. Außenpolitisch wirkt eine erdrückende Mehrheit zumeist sozialistisch regierter EU-Mitgliedsländer durch ihre Regierungschefs (angeführt vom portugiesischen Chef der Sozialistischen Internationale) gemeinsam mit der parteipolitisch gleichgerichteten EU-Kommission zusammen. Ziel des abgestimmten Verhaltens ist, Österreich unter Bruch seines Selbstbestimmungsrechtes und unter Mißachtung seiner Souveränität eine andere Regierung als die derzeitige Mehrheitsregierung aufzuzwingen. Gegen den österreichischen Staatspräsidenten und gegen den bisherigen sozialistischen Regierungschef besteht der – von politischen Kreisen anderer EU-Länder bestätigte – Verdacht, den Druck der EU nicht nur billigend hingenommen, sondern sogar ausdrücklich "bestellt" zu haben. Die Medien fragen: "Putsch oder Staatsstreich?"

Im Inneren Österreichs, dessen Koalition sich auf die Entscheidung von etwa 54 Prozent der Wähler demokratischer Parteien berufen kann, probt eine Minderheit derzeit in Massendemonstrationen den "Aufstand" und will die demokratische Mehrheitsentscheidung des Volkes mit Unterstützung ausländischer Berufs- und Hobby-Demonstranten und durch den rechtswidrigen, selbstbestimmungsfeindlichen Druck der EU beseitigen. Gegen diese demokratiepolitisch wie rechtsstaatlich unerträglichen Umsturz-Versuche von Linksradikalen, Basis-Grünen, Sozialisten, "Künstlern" und demokratiefeindlichen Mitläufern wird von den politischen Verantwortungsträgern der EU in keiner Weise "Front" gemacht; sie werden vielmehr in decouvrierender Weise geschürt. Kommissions-Präsident Prodi stieß die für alle übrigen EU-Mitgliedsländer bedrohliche (EU-Anwärter zur Vorsicht mahnende) "Warnung" aus: So wie Österreich werde es jedem anderen Mitgliedsland unter vergleichbaren Verhältnissen ergehen! Selbst der israelische Außenminister ließ es sich – assisitiert von maßgeblichen Beziehungen Glaubensgenossen in Europa – nicht nehmen, Österreich mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und mit der Ankündigung eines Aufrufs zur Auswanderung der in Österreich lebenden Juden zu konfrontieren. Im Hintergrund steht offenkundig die Sozialistische Internationale, deren totalitärer Machtanspruch durch die Ablehnung und Bekämpfung jeder nicht-sozialistischen oder politisch adäquaten Regierung deutlich wird: Nichtachtung des Selbstbestimmungsrechtes ist mit Nachdruck zu rügen, eine Fortsetzung seiner weiteren Verletzung mit Hilfe des Wählerwillens unter Disziplinierung der rechtsmißbräuchlichen Demo-Gewalt einer den Wählerwillen ignorierenden "Minderheit der Straße" mittels Exekutive zu unterbinden.

Die naheliegende Frage, warum die in Deutschland vor der Regierung Schröder/Fischer von CDU/CSU und FDP getragene Regierung Kohl/Kinkel nicht in gleicher Weise wie die österreichische ÖVP/FPÖ-Regierung bekämpft wurde, läßt sich in zweifacher Weise beantworten: Zum einen ist Deutschland seit 1949 und auch derzeit noch immer kein uneingeschränkt souveräner Staat (Hinweis auf fortbestehende alliierte Vorbehaltsrechte und ausstehenden Friedensvertrag sowie UNO-"Feindstaatenklauseln" in den Artieklen 53 und 107), zum anderen stellt die programmatisch mit der FPÖ in Teilen durchaus vergleichbare bayerische CSU keine aus sozialistischer Sicht innerstaatlich oder gar europäisch "bedenkliche" politische Kraft dar, dies um so weniger, als die CSU von der großen Schwester CDU und dem linksliberalen Korrektiv FDP voll in Schach gehalten und an einer wirksamen Vertretung deutscher Interessen gehindert werden konnte.

Ein weiterer möglicher Grund für die bisherige ausländische Duldung wird in der als seriös geltenden Wirtschaftswoche im Zusammenhang mit der CDU-Finanzaffäre rund um den früheren Parteichef Kohl und dessen Schweigen zu den Spender-Namen lediglich angedeutet: Was wäre, wenn das Geld aus Drittstaaten gezahlt worden wäre? Es wäre ein "politischer Super-Gau" und ein Finanz-Modell zum Unterlaufen des Selbstbestimmungsrechts, das demokratiepolitisch und rechtsstaatlich nicht hinnehmbar wäre.

Selbstbestimmungsrecht, an vier Stellen der weltweit geltenden UNO-Charta verankert und seit der Wiener Vertragsrechts-Konvention (WÜRV) von 1969 zum zwingenden Völkerrecht erstarkt, dessen Nichtbeachtung Verträge unwirksam macht, muß – um des Friedens und der Wohlfahrt der Völker willen – eingehalten werden. Gegenüber staatlicher Souveränität muß es wegen seiner Menschenrechtsqualität im Zweifel Vorrang genießen. Zu fordern ist eine Selbstbestimmungskonvention mit Strafsanktionen im Nichtbeachtungsfall, die Terrorismus-Diffamierung ausschließt.

Würde das Selbstbestimmungsrecht nicht weitgehend ignoriert und faktisch geächtet, sondern weltweit geachtet und anerkannt, so könnten die meisten zwischenstaatlichen und ethnischen Konfliktherde alsbald auf friedliche und dauerhafte Weise beseitigt werden. Konflikte in Fernost, in Schwarz-Afrika, aber auch auf dem Balkan und in der übrigen mittel- und osteuropäischen Staatenwelt nach dem Zerfall der UdSSR, heute insbesondere in Rußland, würden schon bald der Vergangenheit angehören. Tschetschenische Freiheitskämpfer hätten nicht als "Terroristen" und "Rebellen" kriminalisiert werden und von überlegenen russischen "Spezialeinheiten" wie Ungeziefer ausgerottet werden können. Staatlich angeordnetes Morden wäre durch das Gebot friedlicher Koexistenz verhindert worden. Mit Autonomie-Lösungen bzw. der Gewährung des Selbstbestimmungsrechtes könnten Irland und das Baskenland befriedet werden, ja sogar die ethnischen Spannungen des "Pulverfasses" am Balkan abgebaut und beseitigt werden. Auch die unverändert offene, d.h. durch Mord, Vertreibung und Konfiskation keineswegs abschließend "gelöste" Sudentenfrage könnte gerecht und dauerhaft gelöst werden. Dieser ungelösten "Sudetenfrage" gelten die abschließenden Betrachtungen.

Voraussetzung für die dauerhaft friedliche Lösung der "Sudetenfrage" ist, daß Tschechien – uneingeschränkt verantwortlich für ungesühnte, in Serie verübte Verbrechen – sich endlich in deren notwendige "Aufarbeitung" begibt, statt seine ehemaligen staatlichen Bevölkerungsminderheiten selbstgerecht und grundlos zu diffamieren. Aus sudetendeutscher Sicht und Interessenlage muß die tschechische "Vergangenheitsbewältigung" – um nichts weniger geht es hier – mit der durch nichts gerechtfertigten Niedermetzelung friedlicher sudetendeutscher Demonstranten für das Selbstbestimmungsrecht beginnen und den schämenswert-schaurigen Höhepunkt der im deutsch-tschechischen Verhältnis bis dahin beispiellosen Menschenrechtsverletzungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einbeziehen. Ohne vorherige Entschuldigung für diese Nachkriegsverbrechen und ohne den ernsthaften Versuch einer Wiedergutmachung besteht eine natürliche Eintrittssperre für eine tschechische EU-Mitgliedschaft, weil anderenfalls die europäische Rechtskultur in unverantwortlicher Weise beschädigt würde.

Die sudetendeutschen Opfer von 1918/19, insbesondere diejenigen des 4. März 1919, aber auch die Opfer selbstbestimmungswidriger, in jedem Falle ungerechtfertigter Bestrafung angeblich "illoyaler Staatsbürger" der Jahre 1945 bis 1948 würden einen späten Sinn erhalten, wenn sie nicht länger – wie in dem berühmt-berüchtigten Verdikt des Tschechen Alois Rasin gegenüber dem deutsch-böhmischen Landeshauptsmannstellvertreter Josef Seliger am 4. November 1918 – als "Rebellen, mit denen man nicht verhandelt", bewertet werden dürften. Die Zeitgeisthörigen sollten auch aufhören, die Sudetendeutschen tatsachenwidrig als Kriminelle zu diffamieren, die "Rattenfängern" nachgelaufen seien, um damit zu allem Überfluß mit ihrem unverantwortlichen Gerede den inneren Frieden permanent zu stören. Es ist an der Zeit, die stets friedlichen Sudetendeutschen als Vorkämpfer für einen dauerhaften Frieden in Europa und in der Welt zu begreifen. Im übrigen: Nicht die Opfer, sondern die Täter gehören vor die Kriegsverbrecher-Tribunale, die in unseren Tagen zur Eindämmung von Menschenrechstverletzungen eingerichtet werden. Soweit zum Komplex "Schuld und Sühne".

Zum Staatsrecht: Die "Modelle" für eine staatsrechtliche Lösung – von der innerstaatlichen Autonomie bis zur Eigenstaatlichkeit – stehen zur Verfügung und warten auf die Umsetzung in der Praxis. Der erforderliche Umdenkprozeß bei den handelnden Staaten wird mit fortschreitender Anerkennung der Menschenrechte vorankommen. Auch Staaten als Rechtsbrecher müssen von der Staatengemeinschaft stärker in die Pflicht genommen werden – in Europa konkret: Polen und die Tschechische Republik, aber auch die souveränitätsbeschränkende EU. Der souveränen, rechtsstaatlichen, freiheitlichen und demokratischen Republik Österreich muß das Selbstbestimmungsrecht ohne Einschränkung gewährt werden. Wer dies fordert, ist ein Freiheitskämpfer und tritt ein für das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

 

Horst Rudolf Übelacker ist Vorsitzender des sudetendeutschen Witikobundes.


 
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