© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/00 26. Mai 2000

 
Pankraz,
Marios Verzauberer und die Chip-Telepathie

Wenn Pankraz den Gehirnforschern richtig zugehört hat, dann wird demnächst wieder einmal "ein alter Menschheitstraum" wahr: die Telepathie, das "Ferngefühl", wie die genaue Übersetzung lautet, die "Gedankenübertragung", wie es der Volksmund (richtiger?) ausdrückt.

Aber Gefühle oder Gedanken – das steht bei der Telepathie zunächst nicht im Vordergrund. Hauptsache ist die Übernahme fremder seelischer oder gedanklicher Inhalte ohne Zuhilfenahme der fünf "äußeren" Sinne, also Tasten, Sehen, Hören, Schmecken, Riechen. Die Telepathie ist so etwas wie ein sechster Sinn, ungefähr das, was bei den Tieren die "Witterung" ist, eine evolutionäre Errungenschaft, die uns Menschen im Zuge der Bildung der Großhirnrinde vor Jahrtausenden verlorenging.

Jetzt macht es die (man verzeihe das krude Wort!) Verchipisierung der Lebenswelt wohl bald möglich, diesen schweren existentiellen Verlust wieder auszugleichen. Wir pflanzen uns die Telefone via Minichip direkt ins Gehirn. Um nun über beliebige Strecken miteinander zu kommunizieren, müssen wir nicht mehr sprechen, sondern die Worte lediglich denken (oder eben fühlen). Angewählt wird der Partner durch bloßen Willensimpuls. Technisch, so versichern uns die Forscher, bestehen da nur noch relativ geringe, bereits voll abschätzbare Schwierigkeiten.

Schwieriger als das Anwählen dürfte sich das Abschalten gestalten, denn hier steht Impuls gegen Impuls. Eine Art Anrufbeantworter-Chip ist nötig, damit die schwächeren Gemüter nicht wehrlos mit telepathischem Müll oder gar mit groben Befehlen und Zumutungen überschwemmt werden. Es muß möglich sein, sich seine innere Tele-Datei gewissermaßen vom Hals zu halten, sie nur bei Eigeninteresse aufzurufen und abzufragen und das Abschaltemodul so zu konstruieren, daß es allen fremden Willensimpulsen überlegen ist und auch wirklich Ruhe schafft.

Und auch dann besteht noch Gefahr, denn der anwählende Wille könnte so stark sein, daß der Empfänger, ihm einmal ausgesetzt, gar nicht mehr in der Lage ist, sich seinem Einwirken zu entziehen.Beispiele für so etwas gibt es ja schon; man denke an das weite Feld der Hypnose und der sogenannten suggestiven Praktiken!

Der Suggestiv- oder Hypnosesinn ist derjenige, von dessen physiologischer, organischer Unterseite wir am wenigsten wissen. Wir wissen (noch) nicht, ob es für ihn spezielle, lokalisierbare Empfängerorgane in unserem Körper gibt, welche neuronalen Wellen den Reiz transportieren und wohin. Und dennoch gibt es diesen Sinn, das Phänomen des Suggeriertwerdens, gar des in hypnotischen Schlaf Versetztwerdens, ist eine therapeutische und soziale Realität.

Ferner ist klar, daß es sich um einen echten "Sinn" handelt, nicht um eine synthetisierende Verstandesfunktion. Der Verstand wird ja durch Suggestion und Hypnose gerade ausgeschaltet, wobei keineswegs nur eine übermächtige menschliche Persönlichkeit die Ausschaltung bewirken kann. Wir können unter Umständen auch von Tierblicken hypnotisiert werden oder von bestimmten Landschaftsbildern, von bestimmten Wetter- und Klimakonstellationen, von Klängen, Melodien, Gerüchen, Berührungen, von aus alledem kompliziert zusammengesetzten objektiv-subjektiven Stimmungen.

Stets aber verlieren wir dabei unser bißchen Ich vollständig, laufen regelrecht aus, werden schlimmstenfalls zum willenlosen Geschoß, zum willenlosen Instrument des suggerierenden Hypnotiseurs; man denke an Thomas Manns einschlägige Erzählung "Mario und der Zauberer". Es gibt auch Hypnotisierte, die während des Zustands der Hypnose ihr Ichbewußtsein teilweise behalten; die berichten danach, daß sie sich vorkamen wie Gespenster, die aus ihrem leibgeistigen Ich regelrecht heraustraten, sich verdoppelten und sich selbst wie einen Kokon, aus dem der Schmetterling geschlüpft ist, von außen betrachteten, also in eine Art Schizophrenie hineingerieten.

Ob ein Chip im Gehirn Derartiges bewirken kann, ob ein Chip uns in ein willenloses Geschoß oder in ein Schizo-Gespenst verwandeln kann, steht noch in den Sternen, ist aber wahrscheinlich. Telepathie wird in jedem Fall mehr sein als bloßer Zuwachs an bequemer Kommunikation auf Verstandesebene, als bloße Gedankenübertragung. Es wird sich wirklich, dem Wortsinn gemäß, um "Ferngefühle" handeln, und die Frage dabei wird sein, ob es gute Gefühle sind oder pures Erleiden, Unterwerfung, geistige Abdankung.

"Pathos" heißt sowohl "Gefühl" als auch "Leid", weil die alten Griechen, die das Wort bildeten, jedes Gefühl – im Unterschied zum Gedanken – als ein Erleiden begriffen, als etwas, das uns widerfährt, das uns von außen aufgezwungen wird. Das lateinische Wort "affectus" hatte dieselbe Struktur. Daß man, noch bevor man einen klaren Gedanken faßt, gute, starke, autochthone Gefühle haben kann, war eine Entdeckung der Neuzeit, der abendländischen Moderne. Damit verbunden war die Überzeugung, daß es Telepathie gar nicht gibt, daß jene Zauberer, die unsere Gefühle angeblich von außen zu dirigieren vermögen, pure Märchenerfindung waren.

Wenn heute nun dieselbe Telepathie als technische Errungenschaft möglich wird, ist es vielleicht angebracht, den modernen Zauberern (und ihren Finanziers und Auftraggebern) besonders sorgfältig auf die Finger zu schauen. Schließlich will man als Kommunikationsteilnehmer nicht über Nacht in ein willenloses Objekt der Pathologie verwandelt werden.

Natürlich ist es verlockend zu denken, daß man eines nicht mehr allzu fernen Tages die ganze äußere Hardware der Telekommunikation wird auf den Müll schmeißen können, weil alles direkt in unserem Kopf abläuft. Nur sollte man darauf achten, daß es auch wirklich der eigene Kopf ist, der kommuniziert.


 
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