© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/00 26. Mai 2000

 
Nationale Verbindlichkeit
Erinnerungskultur: Warum wir ein Denkmal des 9. November brauchen
Andrzej Madela

Zwei symbolträchtige Bilder fallen mir zum Thema "Erinnerung" auf Anhieb ein: Erich Honeckers schleppender Gang zum Gefängnishof und der getrippelte Anlauf von Andreas Brehme zum erlösenden Elfmeter im WM-Finale gegen Argentinien. Zwei Lidschläge einer gebrochenen Zeitgeschichte, deren einer lange genug vorhielt, einige Sekunden ungeteilter nationaler Freude zu gewähren. Als Honecker hinterm Maschenzaun versank und Brehme ins Maschennetz traf, mochte manch einer gar denken, das gehöre einfach verewigt. Doch schon bald entschwand der eine nach Chile und der andere nach Kaiserslautern, wo der Abstieg in die Zweitklassigkeit lauerte, auf jeden in seiner Art. So reichte es für beide nicht dazu, aufs Schild gehoben zu werden.

Auf den Sockel schon gar nicht. Denn heute geht jeder noch so winzigen Gedenktafel ein unsichtbarer Selektionsprozeß voraus. Was sich darin durchsetzt, ist nur ein Bruchteil von dem, was durch das Sieb fällt. So bleibt das Denkmal die Ausnahme und die Versenkung die Regel.

Dabei steht die Selektion im Dienst der Gesellschaft. Diese läßt zwar eine breite Skala von Identifikationsangeboten zu, doch entgeht sie der Frage nicht, was sie wirklich erinnert haben will. Und sie nennt Kriterien dafür, Nachhaltigkeit der gewürdigten Leistung etwa, ihre Vorbildfunktion und – immer seltener – das öffentliche Interesse.

Allerdings halten nicht die Krücken theorielastiger Maßstäbe eine nationale Erinnerung in Bewegung und Form, sondern Orte ethischer Selbstinszenierung. Wie diese aussehen mögen, begreift jeder, der etwa das State Memorial in Washington gesehen hat. Vorrangig zu bedenken ist dabei die ethische Legitimation, aus der dieses Memorial entstand, genauer: die Überzeugung, daß man zur Identitätsstiftung seine erlittenen Schmerzen präsentieren müsse.

Es ist diese sehr moderne Konzeption, die es erlaubt, auf einem Acker Soldaten beizusetzen, die als Befreier und/oder Besatzer gefallen sind. Was immer das Konto von GIs etwa in Vietnam belasten mag – sie schließt keinen aus, setzt auf den wohlkalkulierten Mitleidseffekt und erreicht auch eine ästhetisch faszinierende Wirkung. Damit ist sowohl das strahlende Weiß der einzelnen Gräber als auch das satte Grün der Landschaft, die geometrische Exaktheit der einzelnen Reihen und die schwungvolle Ost-West-Achse der Anlage gemeint. Die Fähigkeit, um sich selbst zu trauern, steigert diese Wirkung noch und macht mit einem Schlag sinnfällig, wo der markanteste Unterschied zur Erinnerungskultur in Deutschland liegt.

Denn diese verliert ihren Souverän aus dem Blick – und zunehmend aus dem Sinn. Spätestens mit dem nun unabwendbaren Monumentalbau mitten im Berliner Regierungsviertel geraten Maßstäbe von Identitäts- und Raumgestaltung aus dem Gleichgewicht. Wie immer künftige Zeugnisse der Erinnerung an die eigenen Wunden aussehen mögen, sie werden sich dem Vorwurf aussetzen, die gigantische Kranzabwurfstelle überspielen zu wollen.

Ein anschauliches Beispiel für die Verfangenheit liefert die gegenwärtige Diskussion um das geplante Denkmal auf dem Berliner Schloßplatz. Nicht genug damit, daß die Initiatoren in eine groteske Diskussion darüber geraten, ob man denn ein Einheits- oder ein Freiheitsdenkmal entwerfe. Wichtiger noch ist der negative Einklang mit dem Monumentalprojekt: da jenes ein Schandmal sei, müsse man den Deutschen nun ein Denkmal der Zuversicht und Freude über die gelungene 1989er Revolution bauen, diese nach Möglichkeit mit ihrer 1848er Schwester irgendwie verknüpfen, mit einem Wort: ein Stolzmal in die Welt setzen.

Einmal davon abgesehen, daß die ältere Schwester von einer Handvoll Begeisterter in Szene gesetzt wurde, während die jüngere über Millionen unzufriedene Mitläufer zum Tragen kam, wodurch sich der Vergleich beider Revolutionen einen Hinkefuß verpaßt. Außerdem ginge aus dieser verkürzten Gleichsetzung allenfalls eine invalide Mini-Identität hervor. Wichtiger noch scheint das gebrochene Rückgrat dieser Identität: da es ein Tabu sei, die Nation als Opfer zu inszenieren, das Geschichte erlitten habe, muß eine verklemmte Siegeridee her. Ihr Wert wird aber nachhaltig gemindert durch die Tatsache, daß der Besiegte auch aus Einsicht in die eigene Verkalkung und den wirtschaftlichen Bankrott das Handtuch warf. Und der Sieger selbst ist ebenfalls kein strahlender Heros ungebrochenen Widerstands, sondern vielfach verstrickt in die schizophrene Dialektik von werktäglicher Mitläuferei und sonntäglichem Protest.

Das Projekt eines Stolzmals ist aus dreierlei Gründen eine Totgeburt. Zum einen vermag dieser Entwuf es nicht, aus der krämerischen Aufrechnung von Gut gegen Böse auszubrechen, und würde so, gefangen in der inflationären Semantik deutscher Schuld, zur Fortsetzung seines gigantomanen Bruders mit anderen Mitteln werden.

Zum zweiten ist bereits in der Rhetorik seiner Initiatoren ein weitgehender Verzicht auf Eigenständigkeit angelegt. Da beeilt sich einer der Befürworter, pflichtschuldigst den "internationalen" Aspekt des Entwurfs zu betonen, und wird vom anderen assistiert, der das Denkmal zwingend in die Nähe des 3. Oktober rücken möchte. Ein dritter verkündet via Tageszeitung, daß damit eine republikanische Idee gemeint sei, bei der Freiheit vor Einheit stehe. Kurzum: Je länger die Debatte dauert, desto grotesker werden ihre Züge und desto offiziöser deren Geschmack.

Zum dritten schließlich überrascht das dilettantische Vorgehen der Initiatoren und ihre Unfähigkeit, aus dem Debattierklub rasch ein einheitliches Sprachorgan zu entwickeln. Unerreichbar dabei die Leistung der Gegenseite unter dem Taktstock von Eberhard Jäckel und der Juivé imaginaire.

Freilich kann man darüber streiten, ob heute ausgerechnet ein Denkmal die wirksamste Form darstellt, ans kollektive Bewußtsein zu gelangen (in wenigen Jahren werden es unter Garantie die neuen Medien sein). Doch wenn es denn unbedingt eines sein muß, dann ein Denkmal des 9. November – ein Datum von nationaler Verbindlichkeit.

Ein solches Denkmal, das Krieg und Revolution ebenso assoziierte wie Republik und Monarchie, Kriegsniederlage und nationale Vereinigung, böte fünf nachweisbare Vorteile. Zum einen würde es die ganz entscheidenden Wendepunkte der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts mit einem Schlag wirkungsvoll markieren. Durch die Wahl des Symbols fänden der fatalistische Tunnelblick auf das Dritte Reich keinen Halt und die altbundesrepublikanische Selbstbescheidung keine Handhabe. Da es nahezu ein ganzes Jahrhundert umfaßt, wäre seine Verankerung im gesamten deutschen Leid unstrittig, ohne daß es zu theatralischer Buße und billiger Ausrede Anlaß böte. Das Leid der europäischen Juden käme darin zu einem angemessenen Platz, ohne die deutsche Geschichte zu überformen. Schließlich könnte darin die von den Deutschen erlittene Geschichte – durch verlorene Kriege, gescheiterte Revolution und verspielte Freiheit verkörpert – einen Gegenpart in Gestalt einer geglückten nationalen Vereinigung finden.


 
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