© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/00 26. Mai 2000

 
Der kosmopolitische Kant
VW-Stiftung fördert deutsch-russische Werk-Ausgabe des Philosophen
Jessica Rohrer

In der Rezeptionsgeschichte jedes Klassikers spiegelt sich die politische Geschichte. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) bildet von dieser Regel keine Ausnahme. So konnten ihn Protagonisten des mit der Sozialdemokratie liebäugelnden "ethischen Sozialismus" um 1900 genauso für sich reklamieren wie konservative Propagandisten des preußischen Staatsethos oder liberale Ideologen auf der Suche nach geistigen Wegbereitern des Rechtsstaates.

Auch in Rußland waren Kant-Rezeption und Kant-Forschung von solchen politischen Bedingungen und Erwartungen abhängig. So führte etwa die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 und die Einleitung politischer Reformen zu einem ersten Aufschwung der Kant-Forschung unter liberalen Vorzeichen. Genau dieses vorrevolutionäre Erfolgsgeschichte, die von zahlreichen Übersetzungen begleitet wurde, mußte 1917 enden, als man mit den bürgerlichen Kulturtraditionen brach, die bis in die siebziger Jahre nur im intellektuellen Untergrund fortlebten. Nicht wenige Kant-Forscher emigrierten, andere landeten in Stalins Lagern. Zwischen 1917 und 1953 verwandelten sich die Ausgaben von Kants Werken in bibliographisch rare und ideologisch nicht akzeptable Veröffentlichungen.

Wie die Philosophiehistorikerin Nelly Motroschilowa von der Moskauer Akademie der Wissenschaften jetzt in den Kant-Studien (Heft 1/2000) berichtet, steht dem "Alleszermalmer", dessen Heimatstadt sich heute in russischer Hand befindet, offenbar eine Wiederentdeckung bevor. Seit 1998 fördert die Volkswagen-Stiftung im Rahmen ihres Schwerpunkts "Gemeinsame Wege nach Mittel- und Osteuropa" eine deutsch-russische Kant-Ausgabe.

Daß auch diese Edition wieder kosmopolitischen Vorgaben folgt, ergibt sich aus den programmatischen Ausführungen Frau Motroschilowas: Kants Aktualität ergebe sich aus Tendenzen, die sich heute Bahn brechen, nämlich aus der "weltweiten Bewegung um die Wahrung der Menschenrechte", die "Bewegung zum Frieden, zu einem Bund von Staaten und Völkern, bis zur Entstehung einer einheitlichen Weltgemeinschaft".


 
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