© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Söhne und Enkel der Wähler"
Dieter Wellershoff über den Bericht der Wehrstrukturkommission und die drohende Abschaffung der Wehrpflicht
Moritz Schwarz

Herr Admiral Wellershoff, Sie kritisierten die Tätigkeit der gerade ihre Ergebnisse präsentierenden Wehrstrukturkommission erst unlängst in Beiträgen in der "FAZ" und dem "Rheinischen Merkur". Dort konstatieren Sie, schon die Ausgangslage für die von der gegenwärtigen Regierung eingeforderten Bundeswehrreformen sei nicht gründlich analysiert und vor allem nicht plausibel dargelegt?

Wellershoff: Die Kernfrage aller gegenwärtigen Reformen lautet doch: "Welche Bundeswehr brauchen wir in der Zukunft?". Also muß man mit den sicherheitspolitischen Gegebenheiten anfangen. Die Kernaufgabe deutscher Sicherheitspolitik heißt dabei: "Frieden". Und nicht, schlicht Interventionskräfte bereitzuhalten. Die glückliche Lage, in der wir heute befinden, ist das Resultat von Sicherheitspolitik, die Stabilität angestrebt und dazu auch das Instrument der Abschreckung gebraucht hat. Der Begriff "Abschreckung" kommt, soweit ich das sehe, in dem Bericht der Weizsäcker-Kommission überhaupt nicht vor. Also, die erste Aufgabe unserer Streitkräfte ist das Herstellen von Stabilität der Friedenssicherung. Erst dann kommt die Frage, was tun, wenn jemand diese Stabilität stört? Zu guter letzt soll die bewaffnete Macht dem eigenen Staat international ein gewisses Mitspracherecht garantieren. Diese Grundfunktionen von Streitkräften verlieren wir wohl aus dem Auge. Früher war die Armee im Frieden einzig und allein dazu da, um auf den Krieg vorbereitet zu werden. Inzwischen haben wir aber, auch wenn kein Krieg herrscht, viele Aufgaben: Etwa die Überwachung der Rüstungskontrolle oder die Beteiligung an Programmen internationaler Vertrauensbildung, wie "Partnerschaft für den Frieden". Heute haben wir schon im Frieden Einsätze und nicht nur Kampf- und Kriseneinsätze. Deshalb beklage ich, daß die Kommission einen einseitigen Schwerpunkt setzt. Es ist schon richtig, was sie beschreibt, nur ihre Schlußfolgerung, daß wir die Zahl unserer "Einsatzkräfte", früher nannte man sie "Krisenreaktionskräfte", mehr als verdoppeln müssen, halte ich für überzogen.

Es gibt Reformvorschläge des gerade entlassenen Generalinspekteurs Hans Peter von Kirchbach, es gibt Vorschläge von Scharpings Bundesministerium der Verteidigung selbst und von von Weizsäckers Wehrstrukturkommission. Verderben nicht viele Köche den Brei?

Wellershoff: Es ist völlig richtig, daß im Augenblick ein fürchterliches Wirrwarr herrscht und das Prinzip heißt, "Darf es noch ein bißchen weniger sein"? Man muß sich einmal vergegenwärtigen, daß dies die sechste Reduzierung der Bundeswehr in den letzten zwölf Jahren ist. Nun aktuell: Irgendwer soll mir doch bitte mal erklären, was sich in den letzten fünf Jahren an unserer Sicherheitslage verändert hat? Die erheblichenTruppenreduzierungen nach der Wende in Europa haben längst stattgefunden, die Friedensdividende ist längst kassiert. Und nun kommt die nächste Runde, und viele meinen, im Jahre 2000 müßte man erneut zulangen!? Die Bundeswehr braucht jetzt endlich Ruhe, um die verordneten Reformen auch durchzuführen. Wenn Sie alle zwei Jahre neue Planungsvorgaben bekommen, dann kann das nichts werden, und dann sind die Vorwürfe formal ja nicht unberechtigt, wenn es heißt, man habe immer noch nicht die richtige Struktur eingenommen. Also, ich halte fest: Ich sehe nicht ein, warum die heutige Bundeswehr weiter reduziert werden muß!

Herrscht aber ehrlich gesagt nicht schon seit der Wende völlige Planlosigkeit bei der Bundeswehr über die politische Zielsetzung? So hat sich das zumindest uns Jüngeren während unserer Wehrdienst- und Reservetätigkeit durch die neunziger Jahre hindurch vermittelt.

Wellershoff: Das ist wohl etwas übertrieben. Die grundlegende politische Neuorientierung hin auch zu Interventionseinsätzen hat schon im Frühjahr 1990 begonnen. Die Unklarheit wurde allerdings erst 1994 mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Out of area-Einsätze beendet. Aber ich habe ja schon klargemacht, daß man das Problem der Einsatzaufgaben der Bundeswehr etwas differenzierter sehen muß als in der einfachen Zweierlösung, hier Krisenreaktionskräfte, da Hauptverteidigungskräfte. Dazwischen befinden sich noch diverse Zwischenstufen. Und in diesen Versuch, differenzierte Strukturen aufzubauen, platzen immer neue Planungsvorgaben. Übrigens, ein Resultat dieser Diskussion ist, daß die Bundeswehr offenbar schon jetzt Nachwuchsprobleme hat.

Wenn Sie speziell für die letzten fünf Jahre eine neue Unsicherheit feststellen, woran liegt das genau?

Wellershoff: Die letzte Truppenreduzierung war 1995 von 370.00 auf 340.00 Mann. Mittlerweile kriegen Sie, sogar aus amtlichem Munde, eine 10.000 bis 20.000 Mann niedriegere Zahl genannt. Es findet also seitdem eine schleichende Abrüstung statt. Man hat geglaubt, man könne angesichts der Unterfinanzierung der Bundeswehr durch die Aufgabe von Personalstellen Geld für Investitionen gewinnen. Das erwies sich aber als Irrtum. Denn jeder, der etwas von Finanzen versteht, weiß, so funktioniert Haushaltsplanung nicht. Einsparungen werden kassiert, nicht honoriert.

Die Preise für moderne Waffensysteme explodieren. Sparen hin oder her, werden wir uns die Waffensysteme der Zukunft überhaupt noch leisten können?

Wellershoff: Man muß sich nicht gleich jede Neuerung aufbürden. Deshalb ist es die Aufgabe erfahrener Offiziere, zu definieren, was man wirklich braucht. Dann muß dieses Gerät auf wirtschaftliche Weise beschafft werden. Doch das was Sicherheit eben kostet, muß auch bezahlt werden.

Was halten Sie dann von der Maßnahme Rudolf Scharpings, Lager- und Verwaltungsaufgaben der Bundeswehr an private Unternehmen zu delegieren?

Wellershoff: Er irrt völlig. Die Wirtschaft kann nichts leisten, was sich nicht auch die Betriebswirte der Bundeswehr ausdenken könnten, wenn die Kameralistik sie denn ließe. Die Wirtschaft muß und wird daran verdienen. Man versucht, ich habe das schon ausgeführt, aus dem Haushalt der Bundeswehr noch ein bißchen Friedensdividende zu kassieren. Doch wenn ich die Priorität der äußeren Sicherheit bedenke, dann müßten die wenigen Milliarden pro Jahr, die die Bundeswehr mehr braucht, locker zu machen sein. Also vermute ich hinter den fiskalpolitischen Argumenten doch auch so manches ideologische Argument.

Haben Sie diese Vermutung speziell in Bezug auf die neue Bundesregierung?

Wellershoff: Sie sollten sie an ihren Taten messen.

Aber wurde mit der Wehrstrukturkommission nicht nach einer unabhängigen Instanz gesucht?

Wellershoff: Der Bericht zeugt unter anderem von einer unheiligen Allianz, zwischen jenen, die sich eine Bundeswehr weit unter zweihunderttausend Mann wünschen, indem sie die Wehrpflicht abschaffen wollen, und solchen, die aus ideologischen oder anderen Gründen Anhänger der Freiwilligenarmee sind. Deshalb glaube ich auch, daß wenn nun die Vorschläge der Kommission umgesetzt werden, es nicht bei der von ihr genannten Truppenstärke von 240.000 Mann bleiben wird. Schon allein weil es nicht gelingen wird, 210.000 Mann freiwillig zu rekrutieren, wenn man nur 30.000 Wehrpflichtige hat. Heute gelingt es uns ja noch nicht einmal aus jährlich 135.000 Wehrpflichtigen den Stamm von 200.000 Freiwillige zu gewinnen. Wir liegen im Augenblick schon bezüglich der Freiwilligen bei unter 190.000 Mann.

Das heißt, für Sie ist der Kommissionsvorschlag mit künftig 30.000 Wehrpflichtigen der versteckte Einstieg in den Ausstieg aus der Wehrpflicht?

Wellershoff: Ich will das mal gar nicht als Absicht unterstellen. Die Argumente des Herrn Altbundespräsidenten sind ja andere. Man möchte ja auf diese Art und Weise die Wehrpflicht wenigstens formal erhalten. Doch in der Praxis, so meine Prognose, wird das eben auf eine Reduzierung deutlich unterhalb der Marke 240.000 Mann hinauslaufen. Übrigens, alle unsere Nachbarn, die die Wehrpflicht abgeschafft haben, stehen jetzt vor erheblichen Rekrutierungsproblemen.

Einerseits sprachen Sie vorhin von einer "unheiligen Allianz" durchaus auch ideologischer Motive, nun sagen Sie, ebensolche wollen Sie nicht unterstellen?

Wellershoff: Nein, welche Motive dahinter stecken, kann ich nicht weitergehend interpretieren. Mich irritieren einige Dinge, ansonsten beschränke ich mich darauf, in Verantwortung vor der Sache zu analysieren.

Muß die Wehrplicht nicht schon aus staatspolitischen, sprich nationaldemokratischen Gründen erhalten bleiben?

Wellershoff: Es wird dauernd von dem "Staat im Staate"-Argument geredet. Man müßte verhindern, daß die Armee sich vom Staat entfernt. Ich glaube, das Umgekehrte ist viel wichtiger, daß sich die Gesellschaft nicht von ihren Streitkräften entfernt. Ehrlich gesagt finde ich das "Staat im Staate"-Argument für die Bundeswehr mittlerweile fast beleidigend. Noch wichtiger ist aber, daß der Abgeordnete der dem Einsatz der Streitkräfte zustimmt, nicht über irgendeine Söldnertruppe entscheidet, sondern über die Söhne und Enkel seiner Wähler. Ich habe schon die Sorge, der Umgang mit der bewaffneten Macht könnte dann etwas lockerer werden. Anfangen sollten wir übrigens zum Beispiel damit, daß wir von "unseren Soldaten" und nicht "den Militärs" reden. Ich höre das jetzt pausenlos. Und es regt mich auch furchtbar auf, wenn jemand wie der Herr Altbundespräsident am Sonntag bei Sabine Christiansen die Wehrpflicht als "Freiheitsentzug" bezeichnet.

Bedeutet der de facto Abschied von der Wehrpflicht nicht einen Paradigmenwechsel der bundesdeutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik?

Wellershoff: Unbestritten ist doch, daß die Bundeswehr in Hinblick auf die neue sicherheitspolitische Lage neue Strukturen braucht. Aber es wird eben dauernd Reform und Reduzierung verwechselt. Die meisten, die heute von Reformen sprechen, meinen Reduzierung: Da kommen immer sofort Zahlen! Ich spreche aber von dem Spektrum der möglichen Einsatzarten: humanitäre Hilfe, Friedenseinsätze bis hin zu Kampf- und Kommandounternehmen. Das andere ist eben die Prävention. Bestes Beispiel ist Mazedonien, von dem die meisten Leute gar nicht wissen, daß es seine Integrität der Tatsache verdankt, daß dort seit vielen Jahren US-amerikanische und skandinavische Truppen zur Prävention stehen. Der sicherheitspolitische Teil des Kommissionsberichtes beginnt mit der dünnen Aussage, wir seien von Freunden und Partnern umzingelt. Diese Sicht verkennt völlig Gefahren von See aus, oder aus der Luft. Und vor allem, daß wir uns verpflichtet haben, unsere eigene Sicherheit auch an den Grenzen unserer Verbündeten zu verteidigen. Im übrigen müssen wir als Welthandelsnation Nummer zwei ein Interesse daran haben, daß die Handelswege für unser Land und für Europa freigehalten werden. Und im übrigen muß Sicherheitspolitik immer auch den unwahrscheinlichen Fall berücksichtigen. Deshalb ist es so wichtig, daß man in der Lage bleibt, diesen großen Angriff, auch wenn er im Moment sehr unwahrscheinlich erscheint, nach Mobilisierung doch abwehren zu können.

Das bringt uns zu der gegenwärtig ebenfalls völlig unbefriedigenden Situation der Reserve.

Wellershoff: Die Vorschläge der Kommission spielen die Aufgabe, eine Basis an Reservisten zu halten, völlig herunter. Der Bericht sieht die Reservisten offenbar nur noch als nützliche, punktuelle Ergänzung der aktiven Truppe durch einzelne Fachleute. Das ist nicht der eigentliche Auftrag der Reserve. Und gerade die Reservisten-Konzeption gehört zu dem Reformbedarf, den wir haben. Es dauert schon zehn Jahre, bis eine Armee, deren Reserven verloren sind, wieder auf die Beine kommt. Es gibt kein grundsätzliches Hemmnis, nicht auch einen Wehrdienstleistenden in "Einsatzkräften" zu verwenden, außer seiner unzureichenden Ausbildung vielleicht. Man hat aber darauf verzichtet, um eine weitergehende politische Diskussion zu vermeiden. Durch Anreize erreicht man aber, daß sehr viele sich etwas länger verpflichten und mit in den Einsatz gehen.

Das heißt, Sie sprechen sich dafür aus: Wehrpflicht und Reserve sollen bleiben. Doch statt die Zeit nur bei den rein mit der Landesverteidigung betrauten Hauptverteidigungskräften abzusitzen, sollen die jungen Männer motiviert werden, sich zu beteiligen?

Wellershoff: Ja, und im Grundsatz wird das heute schon gemacht. Die einfache Unterscheidung in die beiden Kategorien Krisenreaktion und Heimatverteidigung ist heute ohnehin nicht mehr die Regel.

Droht nicht die Gefahr, daß wir mit der neuen Planung künftig viel leichtfertiger zum Mittel der Intervention als Instrument der Krisenlösung greifen werden?

Wellershoff: Die Gefahr ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Man muß sich ja nur die Interventionsmentalität früherer Kolonialmächte anschauen: In Frankreich etwa wird überhaupt nicht diskutiert, die Soldaten werden einfach hingeschickt. Andererseits zeigt die Erfahrung , daß demokratische Staaten, im Gegensatz zu dem, was etwa der Politologe Ernst-Otto Czempiel behauptet, eben nicht mal locker-vom-Hocker zu militärischen Mitteln greifen würden. Im Gegenteil, sie zögern bei Krisen durchaus viel zu lange und lassen sie erst richtig hochkochen. Ich glaube, mit einer früheren und energischeren Kosovo-Politik hätte sich das Schlamassel vermeiden lassen.

Laufen wir nicht Gefahr, immer mehr in die geopolitischen Aktivitäten der USA verstrickt zu werden?

Wellershoff: Da zitiere ich Rudolf Scharping, der gesagt hat, wir haben in der Welt nicht "zuviel Amerika", sondern "zuwenig Europa". Ich möchte jeden Amerika-kritischen Ton vermieden wissen, solange die Europäer sich nicht zusammenraffen und selbst was auf die Beine stellen. Wir hätten auch auf die USA einen sehr viel größeren Einfluß, wenn wir mehr Gewicht in die Waagschale werfen könnten. Globalisierung ist auch ein wirtschaftlicher Vorgang, aber es ist zunächst einmal ein Werte betreffender Vorgang. Wir erleben den Anspruch der Universalität der Menschenrechte. Wir bauen ein weltweites System von Zusammenarbeit. Anders als zu Goethes Zeiten geht es uns heute sehr wohl etwas an, wenn "fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen".

 

Admiral a.D. Dieter Wellershoff geboren 1933 in Dortmund. 1957 Eintritt in die Bundesmarine. Kommandant des Minensuchbootes "Vegesack", dann des Zerstörers "Hessen". Admiralstabsausbildung, Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr, Inspekteur der Marine, schließlich von 1986–91 Generalinspekteur der Bundeswehr. 1992–95 Gründungspräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, sowie Lehrauftrag für Sicherheitspolitik und Führungslehre an der Ruhr-Universität Bochum.

Auswahl der Auszeichnungen: Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, Großoffizier der französischen Ehrenlegion, Kommandeur der Legion of Merit (US), Lucius D. Clay-Medaille.

Auswahl aus den Veröffentlichungen: "Freiheit was ist das?" (Hrsg.) 1984, "Frieden ohne Macht" (Hrsg.) 1990, "Führen – Wollen – Können – Verantworten" 1997, "Mit Sicherheit. Sicherheitspolitik zwischen gestern und morgen" 1999

 

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