© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Kolumne
Bindungen
von Klaus Motschmann

Sowohl der hinter uns liegende Katholikentag in Hamburg als auch die vor uns liegende Fußball-Europameisterschaft bieten zwei aktuelle Anlässe über ein grundsätzliches Problem menschlicher Daseinsgestaltung nachzudenken: über das Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Bindung. Die katholische Kirche (in einem bemerkenswerten Unterschied zur evangelischen Kirche) wird immer härter beklagt, die "Freiheit der Kinder Gottes" durch Gebote, Verbote, Dogmen, Kirchenzucht und sonstige repressive Elemente ihrer zweitausendjährigen Tradition einzuengen. Dabei komme es doch auf den "Inhalt der christlichen Botschaft" und nicht so sehr auf "äußere Formen" und "starre Regeln" an. Werden wir nicht gerade zum Pfingstfest, dem "Geburtstag der Kirche", belehrt, daß der Heilige Geist "weht, wo er will"? Das alles ist richtig und verführerisch.

Selbstverständlich kommt es in erster Linie auf den "Inhalt" an. Aber eben weil es auf den Inhalt ankommt, kommt es auch auf die Beachtung "äußerer Formen" und "starrer Regeln" an. Der Kaffee im Restaurant kann dem Gast gar nicht anders serviert werden als in einem Kännchen, eventuell auch in einem Glas oder einem Plastikbecher, jedenfalls nur in einem festen Gefäß und nicht in einem Sieb. Niemand wird bestreiten wollen, daß in diesem Falle ein wesentlicher Zusammenhang zwischen "Inhalt" und "Form" besteht, der nicht mißachtet werden darf, wenn man den "Inhalt" erhalten will.

Die "Kinder der Welt" wissen das sehr genau und haben deshalb keine grundsätzlichen Schwierigkeiten in der Anerkennung von "äußeren Formen" und "starren Regeln". Sowohl in Wissenschaft und Wirtschaft, in weiten Bereichen unserer Kultur und im Sport wird entschiedener Wert auf eine möglichst weitgehende Übereinstimmung von "Inhalt" und "Form" gelegt. Dazu gehört in erster Linie die Beachtung der eigenen Regeln und Satzungen. Musterbeispiel dafür ist der Fußball, überhaupt der Sport. Die Faszination, die von ihm ausgeht und die Millionen Menschen in den Bann zieht, erklärt sich in erster Linie aus der strikten Beachtung der "starren Regeln" und augenblicklichen Ahndung jedes Regelverstoßes seitens "erbarmungsloser" Schiedsrichter durch Strafstöße, gelbe und rote Karten, Platzverweise oder gar vorübergehende Spielsperren. Jeder halbwegs gebildete Zuschauer vermag deshalb zu beurteilen, ob ein Foul, ein Abseits oder ein sonstiger Regelverstoß vorliegt oder nicht. Bei den evangelischen Kirchentagen und nun auch bei den Katholikentagen weiß man das nicht mehr. Darüber sollte nachgedacht werden.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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