© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Ein europäisches Volk gibt es nicht
Frankreich: Die Europa-Rede des deutschen Außenministers Fischer sorgt weiterhin für Unruhe
Carl Gustaf Ströhm

Die Antwort des französischen Innenministers Jean-Pierre Chevène-ment auf die Auslassungen des deutschen Außenministers Joseph "Joschka" Fischer samt der Forderung des Deutschen nach einer europäischen Föderation ist das, was man früher als Nachricht definierte: Wenn nämlich nicht der Hund den Mann, sondern der Mann den Hund beißt. Die eigentliche Sensation dieser Polemik wurde in Deutschland gar nicht richtig wahrgenommen – außer von Peter Gauweiler in der Welt am Sonntag. Leider machte er den estnischen Staatspräsidenten Lennart Meri zu dem von Lettland, aber mit Geographie nimmt man es hier nicht mehr so genau.

Chevènement wurde vorgeworfen, er habe behauptet, die Deutschen hätten ihre nationalsozialistische Vergangenheit nicht überwunden. Aus seinem Aufsatz im französischen Nouvel Observatour ist aber zu erkennen, daß er dies nicht im Sinne der bekannten "Faschismuskeule" sagte, sondern im Gegenteil: Chevènement fordert als Voraussetzung für ein "europäisches Europa", daß die Deutschen sich "ihrer selbst bewußt" sein und "Herren ihrer Vergangenheit" werden müßten (was sie, wie man aus dem Zusammenhang der Chevènement-Äußerungen entnehmen kann, bis heute nicht sind). Nachdem er Fischer "Grobheit", wohl auch im Sinne von "Ungeschlachtheit" vorgeworfen hat, erinnert Chevènement an Joschka Fischer vor sechs Jahren erschienenes Buch "Risiko Deutschland", in dem der heutige Außenminister seinen Landsleuten noch empfahl, für Deutschland ein "Tätigkeitsfeld außerhalb des Staatlichen" zu suchen. Chevènement spricht in diesem Zusammenhang von der Versuchung, der viele Deutsche unterliegen: nämlich den Staat zu "verteufeln". Und er schreibt wörtlich: "Wir brauchen kein Deutschland, das ins postnationale Zeitalter davonläuft. Wir brauchen ein bürgerliches Deutschland, damit wir einen aufrichtigen Dialog über die Ziele des Aufbaus Europas beginnen können." Offensichtlich hat für den Ex-Sozialisten Chevènement, der seit 1992 Chef der linksnationalen "Bürgerbewegung" ist, die anti-staatliche, vor allem anti-nationalstaatliche Prägung Joschka Fischers etwas Unheimliches, jedenfalls für Frankreich Unerwünschtes. Man kann zwar sagen, Fischer habe ja ganz im Gegenteil nicht die Abschaffung der Nationalstaaten, sondern deren Einbindung in eine europäische Föderation – also einen Bundesstaat – gefordert. Aber hier liegt der Hase im Pfeffer: Ein europäischer Bundesstaat schließt europäische Nationalstaaten co ipso aus. Ein Bundesstaat mit eigener Regierung, Exekutive, Verfassung kann von seiner Definition her keinen "souveränen" Staat unter sich dulden. Fischers Beschwichtigung hinsichtlich des Nationalstaats dient der Beruhigung ansonsten aufgeregter Gemüter – nur hat Chevènement (im Gegensatz zu Gauweiler) dieses Spiel durchschaut.

"Staat und Demokratie sind aufs engste miteinander verbunden", schreibt Chevènement, "durch das Erfinden institutioneller Mechanismen, wie sie der deutsche Außenminister beschreibt, kann man die Frage der europäischen Identität nicht lösen." Chevènement hält auch die "induktive Integration" seiner Landsleute Jean Monnet und Robert Schumann für überholt. Diese hätten die Staaten vor "vollendete Tatsachen" gestellt. Die Integration der Adenauer-Ära hält Chevènement für Schnee von gestern. Schon jetzt, mit 15 Mitgliedern, arbeiteten die europäischen Institutionen sehr schlecht; mit 25 oder 30 Mitgliedern würde alles vollends blockiert. Die Alternative, die Fischer anbietet, überzeugt den Franzosen nicht: entweder vollkommene Integration aller Mitgliedsstaaten – oder die Integration einer kleinen Gruppe als Vorhut. Süffisant bemerkt Chevènement, die Fischersche Alternative erscheine ihm reduziert: so, als werde man vor die Wahl gestellt, sich entweder "in Bechamel- oder in Senf-Sauce zu tauchen".

"In Ermangelung eines europäischen Volkes kann eine europäische politische Identität nicht ohne die politische Annäherung der Völker erreicht werden – der Völker, welche Europa ausmachen. Wir können nicht dem Dialog ausweichen, der in jedem einzelnen Staat beginnt. So wird ein wirklicher öffentlicher Raum für eine Diskussion auf europäischer Ebene geschaffen", meint Chevènement.

Seit 1945 fühle sich Deutschland als Schuldner der USA, die den Deutschen Freiheit und Einheit zurückgebracht hätten. Die Amerikaner zögen aus dieser Abhängigkeit Nutzen, indem sie den Deutschen scheinbar eine bevorzugte Partnerschaft anbieten. Das aber dürfe die europäischen Völker nicht daran hindern, "gemeinsam ihre berechtigten Interessen zu verteidigen." Deshalb brauchten Frankreich und Europa ein deutsches Volk, "das mit seiner Vergangenheit versöhnt ist". Und beschwörend fährt er fort: "Davon hängt die Zukunft des großen Europa ab, das sein eigener Herr ist."

Was Frankreich betrifft, so verweist Chevènement auf die Tatsache, daß die Mehrheit der Franzosen nicht bereit ist, "sich von der republikanischen Form loszusagen" – also vom französischen Nationalstaat. Und weiter: "Den Staat in die Rumpelkammer der Geschichte zu verbannen, hieße, sich für immer von der Demokratie zu verabschieden". Denn die grundsätzliche Frage sei nicht die europäische Föderation oder Konföderation – sondern die Alternative: vasallenhafte Oligarchie oder bürgerliche Demokratie in jedem einzelnen europäischen Staat. Chevènement fordert, Frankreich müsse seine Stimme erheben, "damit der Ruf der Sirenen, die einer Unterordnung unter das ’globalisierte‘ Imperium das Wort reden, nicht das Bewußtsein für das erstickt, was das europäische Europa sein könnte". Der Mann, der den Hund beißt: Ein französicher Innenminister, der die Deutschen dazu aufruft, sich selbstbewußt zu ihrem Staat zu bekennen und sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auszusöhnen, also wieder "Meister" ihrer Geschichte zu werde. Natürlich tut Chevènement dies nicht nur aus purer Menschen- oder Deutschenliebe: Er weiß, daß nicht nur Deutschland sondern auch Frankreich in einem Euro-Bundesstaat nicht nur auf- sondern untergehen würde. Er weiß aber auch, daß er den französischen Nationalstaat nur retten kann, wenn auch der deutsche gerettet wird.

Warum gibt es von deutscher Seite keinen Diskussionsbeitrag, der in Stil und Brillanz mit Chevènement mithalten könnte? Warum wird bei uns so viel geschwafelt – und so wenig nachgedacht?


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen