© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
"Ostpreußen ist heute dreigeteilt"
Interview: Rene Nehring über seine Rückkehr in ein vergessenes Land und deutsche Chancen durch Aussöhnung
Mortitz Schwarz/Jörg Fischer

Herr Nehring, Sie sind erst 25 Jahre alt, zwischen Ihnen und der Vertreibung liegt also eine ganze Generation. Wie kommt es zu Ihrem Engagement für die Jugendorganisation der Landsmannschaft Ostpreußen "Bund Junges Ostpreußen" ?

Nehring: Ich bin zwar im mecklenburgischen Neustrelitz geboren, doch ein Teil meiner Vorfahren stammt aus dem Kreis Wehlau in Ostpreußen. Nach der Wende habe ich Kontakt mit der örtlichen Vertriebenengruppe bekommen und über diese mit der Landsmannschaft Ostpreußen. Mein Großvater erzählte mir immer von seiner Heimatstadt in Ostpreußen. Sein einziger Wunsch war, diese noch einmal wiederzusehen. Darauf bestand jedoch keine Aussicht, da Wehlau im russisch besetzten Teil Ostpreußens liegt und damit anders als die polnisch besetzten Teile absolutes Sperrgebiet war. Ich war damals so etwa neun oder zehn Jahre alt. Man erklärte mir: in die eine Richtung gab es auch ein Deutschland, mit einer Tante aus dem Westen, aber ich dürfte nie hin. Und auch in der östlichen Richtung ging Deutschland weiter, doch dort durfte man schon gar nicht hin. Und da fragte ich, warum es gleich drei "Deutschland" gab. Das konnte doch so nicht richtig sein? So begann das Fragen.

Wie war dann Ihr erster Kontakt mit Ostpreußen?

Nehring: 1992 unternahmen wir die erste Fahrt. Von Anfang an war ich begeistert von der landschaftlichen Schönheit. Der Anblick der Heimat meiner Vorfahren hat mich persönlich sehr ergriffen. Am 21. Januar 1945 hatte mein Großvater Wehlau mit dem buchstäblich letzten Zug verlassen müssen, und nun stand ich nach so langer Zeit dort am Bahnhof. Die Stadt ist beinahe ausgelöscht worden, gerade mal der Bahnhof, eine Schule und ein paar Häuser am Stadtrand stehen noch. Das besondere an Ostpreußen ist, daß es anders als die übrigen Vertreibungsgebiete dreigeteilt ist: Denn neben dem polnisch und russisch verwalteten Teil gibt es noch das an Litauen verteilte Memelland. Das Memelland unterscheidet sich vor allem dadurch, daß dort noch fast alles intakt und sauber ist. Wenn ich durch Memel fahre, habe ich gleich wieder das Gefühl, zu Hause zu sein. Sehr interessant ist es mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel mit russischen Studenten, die auf die Geschichte des Landes und die Vertreibungsproblematik eine wesentlich unverkrampftere Sicht haben als ihre deutschen Komillitonen. Für die ist die Stadt immer nur "Kaliningrad", während es für die Russen durchaus Königsberg ist. An der Universität gibt es regelmäßig Kurse zur ostpreußischen Geschichte. Und zwar durchaus auch unter dem Namen " Istorija Wostochnoj Prussii", also Geschichte Ostpreußens.

Was wird in diesen Veranstaltungen gelehrt?

Nehring: Die Geschichte wird bis in die Weimarer Zeit hinein sehr objektiv dargestellt. Dann erst beginnt die Ideologie die Oberhand zu gewinnen. Der Zweite Weltkrieg firmiert immer noch unter "Befreiung Ostpreußens vom Faschismus". Dazu müssen dann auch einmal im Jahr die Aufmärsche der Veteranenverbände herhalten. Was natürlich auch völlig verlogen ist, denn die restlichen Tage im Jahr kümmert sich kein Mensch um diese Leute. Da sind das dann die Armen, die bettelnd am Bahnhof stehen. Und natürlich fragt andererseits auch kaum einer danach, wie diese "Befreiung Ostpreußens" eigentlich ausgesehen hat, warum in den ersten Nachkriegsjahren mehr als 100.000 deutsche Zivilisten zu Tode gekommen sind. Daß die Russen an dieser Legende festhalten, ist aber auch irgendwie verständlich. Schließlich haben sie im Krieg einen einmaligen Sieg errungen. Sie haben halb Europa besetzt und ausgeplündert. Und nun, zwei Generationen später, betteln die Sieger die Nachkommen der Besiegten und Vertiebenen um ein paar Pfennige an, was gewaltig an ihrem Stolz nagt. Die Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse ist also das Letzte, woran sie sich klammern können.

Haben Sie dort noch Deutsche getroffen?

Nehring: Mittlerweile blüht in Nord-Ostpreußen ein ganz zartes Pflänzchen deutschen Lebens auf. Vor allem sind es Unternehmer, die dort aktiv sind. Inzwischen gibt es sogar eine Vertretung der deutschen Wirtschaft. Diese Leute sind natürlich sehr gefragt.

Gibt es keine Heimatverbliebenen, also Deutsche, die der Vertreibung entgangen sind?

Nehring: Erschütternderweise beläuft sich die Zahl der Personen, die heute im Königsberger Gebiet bekannt sind, nur noch auf etwa zehn Personen. Es handelt sich meist um Landsleute, die beim russischen Einmarsch krank in irgendwelchen versteckten Winkeln lagen und von Russen gepflegt wurden. Als sie nach Jahren wieder gesund waren, fragte keiner mehr nach ihrer Herkunft. Andere kamen als Kinder in ein Waisenhaus und wissen bis heute nicht, wer sie eigentlich sind. Es sind schon sehr bedrückende Lebensläufe, die einem in Ostpreußen auch noch 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begegnen.

Welche deutschen Unternehmer gehen denn nach Königsberg?

Nehring: Dies sind vor allem mittlere Betriebe, kleine Produktionsfirmen, aber auch Unternehmensberatungen. Der größte Investor ist seit einigen Monaten BMW.

Ist Königsberg denn für einen solchen Konzern so lukrativ?

Nehring: Das Engagement der Bayern hängt wohl auch damit zusammen, daß die graue Konzern-Eminenz von Kuenheim selbst Königsberger ist. Aber natürlich prüft ein Haus wie BMW sehr gründlich, wo es sich niederläßt.

Sind denn alle Unternehmer, die sich heute dort engagieren, ehemalige Vertriebene?

Nehring: Überhaupt nicht. Die meisten gehen dorthin, weil es der "westlichste Punkt Rußlands" ist, ein Brückenkopf zwischen Ost und West. Außerdem stehen Firmen nicht wie die Vertriebenen unter der Erwartungsdruck, dauernd erklären zu müssen, daß sie das Land gar nicht zurückhaben wollen.

Welche Rolle spielen die Deutschen für Königsberg?

Nehring: Ohne Übertreibung kann man sagen, daß ohne die Deutschen, insbesondere die Kirchen und die Vertriebenenverbände, das soziale System dort längst zusammengebrochen wäre. Die Hilfe der Vertriebenen an die Vertreiber grenzt oft schon an Selbstverleugnung. Auch die deutschen Firmen gehen mit einem sehr partnerschaftlichen Stil vor. Die Russen honorieren, daß anders als die polnischen oder litauischen Unternehmer die Deutschen nicht nur ihre Geschäfte machen und die Gewinne dann in die Heimatländer abfließen, sondern vor Ort auch neue Werte schaffen und die Infrastruktur verbessern.

Gibt es weitere deutsche Aktivitäten?

Nehring: Weiter gibt es etwa ein Patendorf der Deutschen Burschenschaft (DB), das heißt, einige rußlanddeutsche Familien in diesem Dorf werden von der DB betreut. Seit etwa acht Jahren haben sich viele Deutsche aus Rußland, die im Kriege nach Kasachstan und andere Teile des Sowjetreiches vertrieben wurden, in Nord-Ostpreußen niedergelassen. Viele warten dort auf die Genehmigung zur Ausreise in die Bundesrepublik, andere sind nach einer jahrzehntelangen Odyssee glücklich, nun wieder auf historischem deutschen Boden zu leben.Den Ortsnamen nenne ich aber nicht, um eventuellen Ärger für unsere Landsleute zu vermeiden. Allerdings profitieren auch die dortigen Russen von diesem Projekt.

Wie sieht es mit der Besiedlung außerhalb der Stadtgrenzen aus?

Nehring: Etwa die Hälfte der ca. 1.000.000 Einwohner der Exklave lebt in der Stadt Königsberg, der Rest in Kleinstädten oder auf dem Land. Das Vorkriegsverhältnis von 80 Prozent Landbevölkerung zu 20 Prozent in den Städten wurde umgedreht. Das Land ist also im Vergleich zu früher leergefegt.

Ostpreußen war einst ein reiches Land, wie groß ist heute die Armut?

Nehring: Die Armut ist erschreckend, und sie ist wirklich unverständlich, wenn man bedenkt, daß Ostpreußen einst Kornkammer des Reiches war und jedes zehnte Brot in Deutschland aus Ostpreußen kam. Natürlich hängt das mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, etwa der im Kommunismus anerzogenen Unselbständigkeit der Russen, zusammen. Die Armut und das Elend sind so groß, daß Königsberg mittlerweile an der Spitze der Selbstmord-Statistik Rußlands liegt. Ich selbst kam einmal an einer Brücke vorbei, von der kurz zuvor eine verzweifelte Frau in den Pregel gesprungen war. Taucher waren gerade dabei, die Leiche zu bergen. Ein weiteres Merkmal des Niedergangs ist, daß sich Aids dort überdurchschnittlich und unaufhaltsam stark verbreitet.

Sie haben nicht nur den von den Russen geraubten Norden, sondern auch den polnisch annektierten Süden Ostpreußens bereist. Wo sind die Unterschiede?

Nehring: Wenn Sie von Königsberg aus in den polnischen Teil einreisen, dann haben sie den Eindruck, sie betreten den "goldenen Westen". Buchstäblich unmittelbar hinter den Grenzpfählen beginnt am Straßenrand die Landwirtschaft. Die Dörfer sind intakt, und der polnische Aufschwung seit der Wende ist auch hier spürbar. Zwar sterben auch hier Höfe, doch auch in kleineren Orten geht es aufwärts. Für uns ist es zudem erfreulich, daß im Süden noch eine deutsche Minderheit lebt, die im Königsberger Gebiet völlig ausgelöscht wurde. Im Süden sind noch hier und da deutsche Höfe zu finden. Bis in die siebziger Jahre gab es sogar, wenn es auch die Ausnahme war, Dörfer mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung. Diese haben aber durch die sicher gutgemeinten Freikaufwellen ihre deutschen Mehrheiten verloren. In diesen Dörfern gibt es Polen, die einen fast lupenreinen ostpreußischen Dialekt sprechen, weil sie nach dem Krieg dorthin umgesiedelt wurden und sich dann den deutschen Mehrheitsverhältnissen anpassen mußten. Die heimatverbliebenen Ostpreußen sind als Volksgruppe besonders wertvoll, weil sie die letzten Träger ostpreußischen Lebens in seiner natürlichen Umgebung sind. Zum Beispiel finden Sie den ostpreußischen Dialekt bei uns bundesrepublikanischen Nachwuchs-Ostpreußen leider nicht mehr.

Wie ist es diesen Deutschen während der Jahre der polnischen Okkupation ergangen?

Nehring: Bis zur Wende hatten sie unter den Polen sehr zu leiden. Nicht nur unter den nationalistischen Kommunisten, sondern auch unter der einfachen polnischen Bevölkerung. Sogar deutsch zu sprechen, war verboten und Drangsalierungen häufig die Regel. Deutsch war nur hinter verschlossenen Türen möglich. Die Bauern sind manchmal heimlich kilometerweit gewandert, um dann auf einem Hof unter sich das deutsche Erntedankfest zu feiern. Nun leben sie natürlich aus, daß sie nach einem halben Jahrhundert des Schweigens endlich wieder Deutsche in Ostpreußen sein dürfen. Sie tun dies auf eine sehr liebenswerte, besonnene Weise. Chauvinismus ist ihnen völlig fremd. Sie sind einfach dankbar. Und organisieren dürfen sie sich auch wieder. Etwa im Ermländisch-Masurischen Landfrauenverband, der auch von staatlichen Stellen in der Bundesrepublik unterstützt wird und Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Der Verband organisiert seit einigen Jahren übrigens auch "Urlaub auf dem Bauernhof". Bundesdeutsche können so Urlaub bei ihren Landsleuten machen. Darüber hinaus gibt es mittlerweile in jeder südostpreußischen Stadt einen deutschen Verein.

Wie ist die Situation im dritten abgetrennten Teil Ostpreußens, dem Litauen zugeschlagenen Memelland?

Nehring: Hier ist das Verhältnis zu den Deutschen am besten. Es gibt sogar offene Angebote des litauischen Staates zur Rückkehr Vertriebener.

Wird dieses Angebot wahrgenommen?

Nehring: Leider nur sehr wenig, weil die Litauer von den Heimkehrern die Annahme ihrer Staatsbürgerschaft erwarten. Das Ganze hinkt jedoch vor allem daran, daß Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik solche Entwicklungen einfach verschweigen. Man tut so, als würde die Rückkehr der Deutschen in ihre angestammte Heimat dort als Bedrohung angesehen. Nicht einmal die Polen, wenn Sie mit ihnen sprechen, empfinden das so. Wir sind dort als Brückenbauer zwischen Ost und West fast überall willkommen. Insbesondere die baltischen Staaten fordern die Deutschen sogar ausdrücklich auf zurückzukehren.

Das heißt also, daß es durchaus Spielraum für eines der konstitutionellen politischen Gründungsziele der Bundesrepublik gab und gibt, sich die Politiker aber in dieser Hinsicht schlicht nicht um ihren verfassungsmäßigen Auftrag gekümmert haben?

Nehring: Natürlich beabsichtigen diese Staaten nicht, uns Ostdeutschland zurückzugeben. Aber es gäbe schon die Möglichkeit eines stärkeren deutschen Engagements in dieser Region. Ich glaube auch, wenn man von deutscher Seite aus ein Engagement in Königsberg ernsthaft betreiben würde, könnte man sich mit den Russen in Frieden über den Status des Gebietes einigen. Allerdings sollte man dabei nicht so tolpatschig wie in diesen Tagen Günther Verheugen vorgehen, der den Russen eine EU-Tagung über den Status des Gebiets andienen wollte. Auch mit einer angeschlagenen Weltmacht sollte man solch heikle Fragen lieber diskret hinter verschlossenen Türen besprechen. Gedanken an eine Wiedervereinigung mit Deutschland sind im Moment Illusion, aber denkbar wäre zum Beispiel eine vierte baltische Republik, gemeinsam getragen von Deutschen und Rußland. Im Süden sieht das natürlich anders aus, hier ist eine Lösung wohl nur innerhalb des polnischen Staates denkbar. Aber auch hier wäre im Zuge des EU-Beitritts die friedliche Rückkehr der Vertriebenen möglich. In Oberschlesien wäre vielleicht sogar an einen Autonomiestatus des Gebietes innerhalb Polens zu denken. Dort leben immerhin noch bis zu einer Million Deutsche, und die organisieren sich bereits in dieser Hinsicht, zusammen mit ihren polnischen Nachbarn übrigens, die nach mehr regionaler Eigenständigkeit streben.

Wer außer den Vertriebenenverbänden engagiert sich noch für die Deutschen dort? Sie erwähnten vorhin die Kirchen.

Nehring: Das Engagement der Kirchen ist sehr anerkennenswert und von unschätzbarer Wichtigkeit. Die evangelische Kirche in Königsberg ist zum Beispiel der Mittelpunkt des dortigen rußlanddeutschen Lebens. Es gibt verschiedene Vereine, aber alle treffen sich sonntagmorgens in der Kirche. Die Probstei gliedert sich in dreißig Gemeinden und verfügt seit kurzem auch über ein eigenes Gemeindezentrum. Natürlich kann man nicht sagen, es handle sich um deutsche Gemeinden. Es muß immer betont werden, daß dies die evangelische Kirche ist. Aber da die Russen ja orthodox sind, ist das fast eine rein deutsche Angelegenheit.

Der neuen rot-grünen Bundesregierung scheint ganz offen das Vertreibungsunrecht, die Aussöhnung, wie auch die Menschen herzlich egal zu sein?

Nehring: Die neue Regierung hat ein Gutes und ein Schlechtes. Gut ist, daß der Regierungswechsel den Vertriebenenverbänden endlich klar gemacht hat, daß sie von der deutschen Politik nichts mehr zu erwarten haben, während man unter der Kohl-Regierung immer noch vertröstet wurde. Jetzt ist es möglich, offener mit der Regierung zu sprechen, man muß sich nichts mehr vormachen. Allerdings gibt es auch positive Signale, etwa von Innenminister Schily, der in einer sehr ehrlichen Rede zum fünfzigsten Jahrestag des Bundes der Vertriebenen eingestanden hat, daß auch die Linke Fehler gemacht hat. Die Vertriebenen zahlen jetzt den Preis dafür, daß sie sich zu sehr an die CDU/CSU angelehnt haben. Zwar haben wir seit Rot-Grün massivste Mittelkürzungen erdulden müssen, doch hat es die Kürzungen schon unter der alten Regierung gegeben. Die Schließung des "Deutschlandhauses" in Berlin etwa, eines der großen Zentren für die Vertriebenenarbeit, war bereits vor dem Antritt der neuen Bundesregierung beschlossene Sache.

Angesichts der Mittelkürzung und nicht-enden-wollender Verunglimpfung und Ver-leumdung der Vertriebenenverbände, wie sieht die Zukunft der Vertriebenen aus?

Nehring: Wir sollten uns in Zukunft weniger als Traditionspfleger, sondern vielmehr als Brückenbauer zwischen West und Ost begreifen. Keine gesellschaftliche Gruppe in Deutschland hat mehr Wissen über die Länder hinter Oder und Neiße als die Vertriebenen. Man braucht dabei gar nicht auf seine Heimat zu verzichten, wie das bereits unter der Regierung Kohl versucht wurde uns aufzuzwingen.

Welcher Art war dieser Zwang?

Nehring: Beispielsweise hat man Druck ausgeübt auf die Landsmannschaft Ostpreußen, ihre Satzung im Sinne der Zwei-plus-vier-Verträge zu ändern. Konkret ging es darum, den Wiedervereinigungsanspruch mit Ostpreußen herauszunehmen oder der Landsmannschaft die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Wir haben aber darauf bestanden, daß dieser Punkt erhalten bleibt, denn auch wenn wir nie in unsere Heimat zurück könnten, brauchen wir das, was mit den Vertriebenen geschehen ist, nicht auch noch anzuerkennen und im nachhinein zu legitimieren. Unsere Satzung schließt eine Wiedervereinigung mit Ostpreußen im Sinne der KSZE-Schlußakte von Helsinki ein. Dagegen ist ja wohl nichts einzuwenden. Polen und Russen haben im übrigen auch hier mehr Verständnis für die Vertriebenen als deutsche Politiker.

Im Falle des deutschen Ostens verzichtete die Bundesregierung bereitwillig auf Heimat als Menschenrecht. Im Falle des Kosovo war sie aber sogar bereit, dafür einen Krieg zu führen. Wie bewerten Sie das?

Nehring: Daß gerade eine linke Regierung die Maxime von 50 Jahren deutscher Nachkriegspolitik, daß von unserem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe, binnen kürzester Zeit über den Haufen wirft, und dies auch noch, um ein Vertreibungsverbrechen gegen eine andere Nation zu verhindern, macht einen wütend und zugleich fassungslos. Wenn man im gleichen Atemzug, wo man für die Menschenrechte Dritter Krieg führt, den eigenen Landsleuten jede Hilfe verweigert, kann man nicht mehr in Anspruch nehmen, deutsche Interessen zu vertreten. In künftigen Jahren wird man über diese Art des Regierens nur mit dem Kopf schütteln. Klar ist, daß die herrschenden Parteien nicht mehr als Vertreter der Vertriebenen bezeichnet werden können. Sie wollen es im übrigen auch selbst nicht mehr sein.

Mit welchen realpolitischen Forderungen werden Sie sich in Zukunft einmischen?

Nehring: Wichtig ist, so mit den Verhältnissen zu leben, wie sie sind – ohne sie freilich hinzunehmen. Das Aufeinander-Zugehen mit den heute in Ostpreußen lebenden Menschen fällt der jüngeren Generation wesentlich leichter, als den älteren Ostpreußen. Erst recht, wenn die Landsleute nicht nur gewaltsam vertrieben wurden, sondern möglicherweise noch mitansehen mußten, wie Russen oder Polen das halbe Dorf abgeschlachtet haben. Wir Jungen müssen uns neben der Bewahrung der Erinnerung aber auch auf die Zukunft konzentrieren. Deshalb begrüße ich den EU-Beitritt Polens, der Tschechei und Litauens – weil es von ihnen verlangt, europäische Rechtsnormen zu akzeptieren, die sie auf bilateraler Ebene nicht annehmen würden.

Die Bundesregierung ist ja stets ohne Gegenleistungen bereit, auf die Durchsetzung elementarer Grundrechte freiwillig zu verzichten. So haben die Kanzler Kohl und Schröder und ihre Außenminister Kinkel und Fischer stets betont, daß sie einen EU-Beitritt dieser Länder nicht mit Forderungen nach Widergutmachung des Vertreibungsverbrechens verknüpfen wollen.Fühlen Sie sich in solchen Momenten nicht verraten?

Nehring: Verraten ist vielleicht das falsche Wort. Verschaukelt trifft es wohl eher, angesichts jahrzehntelanger gegenteiliger Versprechungen. Das Grundproblem ist wohl, daß fast die ganze heutige politische Elite im behüteten Westen aufgewachsen ist. Keiner von ihnen hat je erlebt, was es heißt, wenn eines Tages fremde Soldaten an der Tür stehen, einem nur wenige Minuten bleiben, das Nötigste zu packen, und man anschließend unter Schlägen zum Bahnhof gepfercht wird. Und das, was eben noch das eigene Haus war, wird dann von fremden Menschen bewohnt. Diese Leute wissen nicht, was es heißt, am Morgen nach Osten zu schauen und zu wissen, daß die Sonne gerade über die eigene Kinderstube zieht. Daß die Mehrheit des Deutschen Bundestages 1990 nach der Grenzanerkennung sogar noch aufgestanden ist und applaudierte, zeigt die Würdelosigkeit unserer politischen Klasse. Diese Stunde darf wohl ohne Zweifel als einer der Tiefpunkte und schwärzesten Tage der deutschen Parlamentsgeschichte bezeichnet werden.


 
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