© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Heiliges Europäisches Reich Amerikanischer Nation
US-Präsident Bill Clinton hat seltsame Vorstellungen von einer EU-Erweiterung
Baal Müller

Ob Karl der Große sich über die europapolitischen Visionen des neuen Trägers des nach ihm benannten Preises gefreut hätte, weiß man nicht. Wahrscheinlich wäre er genauso undankbar, wie diese Europäer nun mal sind; man kann sie beschützen und ihnen helfen, wo man kann, irgendeinen Grund zum Mäkeln finden sie immer. Dabei gibt es doch an Clintons Vorschlägen zur EU-Erweiterung wirklich nichts zu meckern, schließlich gehören die Türkei und Rußland schon geographisch auch ein bißchen zu Europa, und wichtiger ist sowieso die ideelle Zusammengehörigkeit.

In diesem Sinne, aufgrund gemeinsamer Werte und Traditionen, ist ja fast die ganze Welt irgendwie europäisch, auch Amerika, wie der amerikanische Präsident vorige Woche in Aachen ausführte, wofür er dann ja auch mit dem Karlspreis geehrt wurde und vom Kanzler sein Europäertum bestätigt bekam. Während Clinton seinen Preis allerdings fast nebenbei umgehängt bekam, mußte sich Karl d. Gr. noch richtig bemühen und auf beschwerlichen Wegen nach Rom reisen, um sich dort im Jahre 800 die Weihen eines untergegangenen Kaisertums zu verschaffen. Keineswegs handelte es sich dabei nur um historistische Staffage, sondern um die Fortsetzung der alten Reichsidee, die schon Jahrhunderte zuvor von manchen germanischen Herrschern ernsthafter als von den Römern vertreten wurde. So setzte Odoacer 476 den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus nicht etwa deswegen ab, um selber seine Stelle einzunehmen, sondern um das eigentliche Kaisertum wiederherzustellen: ein Kaiser, der seit langem in Konstantinopel regierende römische Kaiser, sei schließlich genug. Der Barbar, der als Zerstörer des Reiches gilt und den Beginn einer neuen Herrschaft verkörpert, betrachtete sich selbst als treuen Vasallen.

Es ist eine beliebte Form der Machtausübung, den Beherrschten vorzugaukeln, daß sie die eigentlich Herrschenden seien; man nennt sich römischer Vasall oder geistiger Europäer und spricht von einer europäischen Idee, von der man so viel versteht, daß man dem realen Europa Rußland und die Türkei zurechnen möchte.


 
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