© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
WIRTSCHAFT
Streikbeschlüsse als Pflichtübungen
Bernd-Thomas Ramb

Selten gab es so dünne Mehrheiten für einen Streikbeschluß deutscher Gewerkschaftler. Gerade einmal 76,2 Prozent der ÖTV-Mitglieder haben sich für volle Mülleimer und fahrerlose Busse ausgesprochen. Das sind magere 1,2 Prozentpunkte über dem erforderlichen Mindestquorum. Bei der Partnergewerkschaft DAG votierten nur 72,8 Prozent für den Streik. Zum Glück für die Gewerkschaftsbosse sind dort lediglich 70 Prozent als Beschlußgrenze vorgeschrieben. Das knappe Ergebnis hat nicht nur die CDU mißtrauisch gemacht. Der hessische Ministerpräsident Koch aber bezweifelt die Korrektheit der Auszählung so stark, daß er zur Nachprüfung eine Veröffentlichung der Einzelergebnisse fordert.

Die Angelegenheit ist allseits äußerst peinlich, vor allem für ÖTV-Chef Mai. Die Gewerkschaftsmitglieder – deren Zahl schwindet – sind kaum für die Streikmaßnahmen zu begeistern, die Bevölkerung – sonst gerne auf der Seite der vermeintlich Zukurzgekommenen – lehnt ihn mehrheitlich ab. Die öffentlichen Arbeitgeber beteuern glaubhaft, nicht mehr zahlen zu können, wenn der Stellenabbau nicht beschleunigt werden soll. Der Gewerkschaftsboß selbst war mit dem Schlichterspruch durchaus zufrieden. Nur der Funktionärsunterbau macht nicht mit. Der Verdacht der Profilneurose drängt sich bei dieser Konstellation der Fakten geradezu auf. In Zeiten einer SPD-geführten Bundesregierung laufen die Gewerkschaften zudem Gefahr, in eine äußerst nebensächliche Statistenrolle im öffentlichen Polittheater abgedrängt zu werden. Der bei sinkender Mitgliederzahl zunehmend überflüssigen Funktionärsclique droht der Karriereknick. Es bleibt ihnen nur die Flucht nach vorne, indem sie, wie in einer Provinzposse, als Knallcharge in Erscheinung treten.


 
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