© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
CD: Jazz/Blues
Warmherzig
Michael Wiesberg

"Er war ein Gigant", den zu entdecken Amerika "mehr als 30 Jahre brauchte." Mit diesen Worten charakterisierte der Tenorsaxophonist Johnny Griffin einmal seinen Kollegen Dexter Gordon, dessen Todestag sich am 25. April dieses Jahres zum zehnten Mal jährte. Griffins Charakterisierung ist nicht zu hoch gegriffen, hat Dexter Gordon doch entscheidend an der Entwicklung des Bebop mitgewirkt und innerhalb dieses Idioms einen verbindlichen Tenorstil mitgeprägt. Vielen Jazzmusikern gilt Dexter Gordon heute als Bindeglied zwischen Charlie Parker und Sonny Rollins. Sein 1972 eingespieltes Quintett-Album trägt den Titel "Tangerine" (Prestige Records; Vertrieb ZYX-Musik Merenburg). Das Album fällt in jene fünfzehnjährige Zeitspanne, die Dexter Gordon in Europa, insbesondere in Dänemark, verbrachte. Dies hinderte ihn freilich nicht, immer wieder in den USA zu konzertieren bzw. neue Alben einzuspielen. Wie eben das Album "Tangerine", das eine – bei Dexter Gordon nicht ungewöhnliche – große stilistische Bandbreite aufweist. Das Titelstück "Tangerine" ist ein Swingstandard, dem zwei Bluesstücke ("August Blues" und "What it was") folgen. Den Abschluß in der Besetzung Thad Jones (Flügelhorn), Hank Jones (Piano), Stanley Clarke (Bass) und Louis Hayes (Schlagzeug) bildet der Henry-Mancini-Standard "Days of Wine and Roses". Als bisher unveröffentlichte Zugabe ist die Hardbop-Aufnahme "The Group" zu hören, der neben Cedar Walton (Piano), Buster Williams (Bass) und Billy Higgins (Schlagzeug), der famose Trompeter Freddie Hubbard seinen Stempel aufdrückt. Gründe genug, in dieses abwechslungsreiche Album intensiv hineinzuhören.

Ob der Münsteraner Gitarrist und Liederschreiber Gregor Hilden jemals auch nur annähernd den Bekanntheitsgrad von Dexter Gordon erreichen wird, muß dahingestellt bleiben. Hörenswert ist sein gerade bei dem Osnabrücker Label "Acoustic Music Records" veröffentlichtes Album "I’ll play the Blues for you" allemal. Hilden ist mit diesem Fusion-Blues-Album ohne Zweifel eine atmosphärisch dichte Aufnahme gelungen, die ihren Reiz auch aus der Tatsache zieht, daß sie nicht im Studio, sondern live aufgenommen wurde. Eingerahmt wird Hilden von einer Reihe hervorragender Musiker, die Hildens differenziert und elegant gespielte E-Gitarre richtig zur Geltung zu bringen helfen. Hilden spielt eine originale 1959er Gibson Les Paul, die so etwas wie eine "Stradivari" unter den Gitarren darstellt. Hildens Wahl hat sich, davon kann sich der Hörer überzeugen, ausgezahlt. Das Niveau dieses Albums läßt das sonstiger Blues-Alben locker hinter sich. Das I-Tüpfelchen stellt zweifelsohne der Auftritt des Gastsängers Johnny Rodgers dar, der zur Weltspitze der Soul Blues-Vokalisten gezählt werden muß. Dies stellt er zum Beispiel eindrücklich mit seiner großartigen Interpretation des James-Brown-Stückes "It’s a Man’s World" unter Beweis.

Gitarre, genauer gesagt: akustische Gitarre, spielen auch die beiden Dresdner Musiker Jörg Naßler und Silvio Schneider, deren neuestes Album "Here’n there" ebenfalls soeben bei "Acoustic Music Records" erschienen ist. Der "Waschzettel" zum Album vermerkt mit Recht, das sich "Here’n there" durch eine "Mischung aus klassischem Ernst, jazziger Leichtigkeit und südamerikanischem Temperament" auszeichnet. Die Musiker selbst schildern die Entstehung des Albums: "’Here’n there‘ spiegelt Impressionen der beiden letzten Jahre wider, die unsere Vorliebe für kalifornische Sonne, keltische Kargheit, andalusische Expressivität, argentinische Steaks und Schweizer Käse mit den dazugehörigen Kulturen spürbar werden lassen." Wer an diesen Impressionen zumindest akustisch teilhaben möchte, dem sei empfohlen, sich von Naßler und Schneider auf ihre Klangreise mitnehmen zu lassen.


 
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