© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Netzers Schuld
Peter Boßdorf

Das Unentschieden, das die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in ihrem Auftaktspiel zur Europameisterschaft gegen die Rumänen mit Glück erzielte, könnte reichen, um jene Prognose zu bestätigen, die eine Mehrheit der Deutschen teilte, bis die Partie gegen die Tschechen für einen kurzen Augenblick die düsteren Vorahnungen vertrieb. Noch eine Niederlage gegen die Engländer (das dürfte nicht schwer sein) bei einem gleichzeitigen Erfolg der Portugiesen über unsere Beinahe-Bezwinger vom vergangenen Montag, und die Heimreise nach der Vorrunde wäre so gut wie gebucht. Die Statistik sagt zwar, daß der deutschen Nationalmannschaft auch in der Vergangenheit hin und wieder Niederlagen unterlaufen sind und sie sogar schon bei großen Turnieren gescheitert sein soll. Stets schwang dabei aber ein wenig Hader mit dem Schicksal mit, weil es gut und gerne auch hätte anders laufen können.

Das ist bei dieser Europameisterschaft erstmals anders. Noch nie war das Gefühl so weit verbreitet, es mit Spielern zu tun zu haben, die bloß deshalb in die Nationalmannschaft gelangten, weil sie zufälligerweise die letzten Bundesligaprofis sind, die noch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Wer nach Schuldigen für die Misere sucht, dürfte dabei aber kaum auf den aktuellen Teamchef stoßen. Es ist vielmehr an der Zeit, endlich auch einmal jene zu kritisieren, die seit Jahr und Tag nichts anderes zu tun haben, als der deutschen Nationalmannschaft den Mut zu rauben, unansehnlich, aber wenigstens erfolgreich zu spielen. Kaum jemand hat hier so viel zur Verunsicherung beigetragen wie Günter Netzer, der in seinen fußballkulinarischen Plaudereien mit Gerhard Delling im ZDF den Akteuren auf dem Rasen eine Spielfreude oktroyieren möchte, die er selbst vor drei Jahrzehnten nur in Ausnahmefällen aufbrachte.

Nun sieht man, in welche Irre die deutsche Mannschaft durch diesen öffentlichen Druck geführt wurde. Während alle anderen munter drauflos kicken und sich nicht um mythische Begriffe wie Spielkultur scheren, sollen ausgerechnet Spielernaturen wie Thomas Linke, Jens Jeremies und Mar-kus Babbel "Kombinationsfußball und Doppelpaßspiel" pflegen. Spätestens seit der Weltmeisterschaft von 1998, seit der Institu-tionalisierung von Günter Netzer als Meinungsführer also, läuft die deutsche Nationalmannschaft einem Ideal von modernem Fußball hinterher, der nirgendwo in der Welt gespielt wird. Dadurch wurde viel Zeit verloren. Heute stehen die hartnäckigsten Konkurrenten dort, wo die Deutschen längst sein könnten, wenn man sie nicht auf Abwege gebracht hätte. Diesen Rückstand wird man bei der EM nicht mehr aufholen können.


 
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