© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/00 23. Juni 2000

 
Wohlstandsgefälle
Die geplante EU-Osterweiterung birgt finanzielle und soziale Risiken
Philip Plickert

Noch bevor der Euro physisch vorliegt, gibt es in Frankfurt mehr Kondolenzen als Glückwünsche. Nach den drastischen Kursverlusten werden die Europäer auf lange Sicht an den Finanzmärkten um Vertrauen betteln müssen. Aus "unerfindlichen Gründen" hätten die Märkte sich gegen die Gemeinschaftswährung "verschworen", stellen die EZB-Leute traurig fest. Auch in Paris schmeckt der Champagner allmählich schal. Die Franzosen haben zwar die Bundesbank entmachtet, an der Federal Reserve sich jedoch die Zähne ausgebissen. So bleibt der US-Dollar die weltweite Reservewährung und ermöglicht es den Amerikanern, weiterhin grün bedrucktes Papier auf dem Weltmarkt für Milliarden zu verkaufen. Viele der schönen "Greenbacks" verschwinden für immer in tiefen Kellern, kehren also niemals zurück und entbinden die USA so von der peinlichen Pflicht, eine Gegenleistung zu erbringen.

Nach dieser Glanzleistung eilt Europa zu neuen Taten: schnellstmögliche Osterweiterung ohne Rücksicht auf Verluste. Im obersten nationalen Interesse für Deutschland liege die Aufnahme der ost- und südosteuropäischen Staaten, meint Außenminister Fischer. Er räumt ein, die Erweiterung der EU auf "27, 30 oder noch mehr Mitglieder" werfe gewisse "schwierige Anpassungsprobleme für die Beitrittsländer wie für die EU selbst auf".

Die von der Kommission veranschlagten 48 Milliarden Euro pro Jahr dürften kaum reichen, realistischere Schätzungen gehen von jährlichen Zusatzausgaben bis zu 85 Milliarden Euro aus (knapp 170 Milliarden Mark), wenn das Brüsseler Subventionswesen auf die agrarisch geprägten, strukturschwachen Volkswirtschaften der sechs Kandidaten Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern ausgedehnt würde. Deutschland finanziert – nur am Rande bemerkt – mit rund 70 Prozent die größte Nettolast in der EU. Mit fast 50 Milliarden Euro pumpt die EU rund die Hälfte "ihrer" Gelder in die Landwirtschaft, wahrlich ein zukunftsträchtiger Wirtschaftszweig. Während Westeuropa nach Angaben der Kommission nur noch 5,5 Prozent der Erwerbstätigen oder 8,8 Millionen Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, seien es in den Beitrittsländern etwa 22 Prozent. Ohne Übergangsfristen befürchtet der deutsche Bauernverband nach einer Öffnung der Grenzen eine regelrechte Völkerwanderung von verarmten Landarbeitern.

Ein weiteres Tabu der unterdrückten Diskussion um die Osterweiterung ist das enorme Wohlstandsgefälle an der gegenwärtigen Ostgrenze der EU. So verfügen 48 von 50 mitteleuropäischen Regionen in den Kandidatenländern über ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf von weniger als 75 Prozent des EU-Durchschnitts. In 5 von 16 polnischen Regionen liegt das BIP sogar unter einem Viertel des EU-Durchschnitts. Die Grenzregionen bekommen die Armut der EU-Neumitglieder besonders zu spüren. Liegt das BIP pro Kopf in Deutschland bei 28.800 US-Dollar und in Österreich bei 27.920 Dollar, so erwirtschaftet der durchschnittliche Pole pro Jahr nur 3.590, der Tscheche 5,240, der Ungar nur 4.510 Dollar. Das Lohnniveau beträgt nach einer österreichischen Studie nur 15 bis 25 Prozent des hiesigen. Der Mittelstandsexperte Eberhard Hamer schreibt für den Fall einer übereilten Öffnung ohne Übergangsregelungen: "Wir würden im Osten dann eine Hundert-Kilometer-Todesstreifen mittelständischer Unternehmen bekommen, wogegen die deutsche und die amerikanische Großwirtschaft den polnischen Markt erobern könnte." Aber zahlen diese multinationalen Konzerne eigentlich Steuern, bilden sie aus oder schaffen sie Arbeitskräfte?

Innerhalb der EU können Arbeitnehmer ohne jede Beschränkung umherwandern. Für Neumitglieder gelten manchmal aber Übergangsfristen. Beim Beitritt Spaniens und Portugals Mitte der achtziger Jahre wurde der Zuzug von Arbeitskräften erst fünf Jahre später freigegeben. Anlaß zu Spekulationen gab in Brüssel die Frage, weshalb Dienststellen der Kommission monatelang eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zu künftigen Wanderungsbewegungen Richtung Hochlohnländer geheimhielten. Jetzt verlautete die Kommission, nach einem Beitritt Estlands, Polens, Ungarns, Tschechiens und Sloweniens sei mit jährlich 150.000 zusätzlichen Einwanderern zu rechnen; bei einem Beitritt aller zehn Kandidaten habe man eine zusätzliche Zuwanderung von 330.000 Menschen zu gegenwärtigen. Nach zehn Jahren würde sich der Strom auf etwa 145.000 Personen pro Jahr verringern. Es könne also keine Rede sein von einer "Überschwemmung" der deutschen und österreichischen Arbeitsmärkte, und der Anteil der Osteuropäer werde 3,5 Prozent nicht überschreiten. Ängste – zumal deutsche – seien grundsätzlich "irrational" und deswegen "unbegründet". Die anderen EU-Partner können die Prognosen gelassen sehen, schließlich waren in der Vergangenheit Deutschland und Österreich das Ziel von rund zwei Dritteln der Zuwanderer aus Mittel- und Osteuropa.

Die Osterweiterung ist das ehrgeizigste Großprojekt der EU seit langem. Sicherlich bieten sich für deutsche Konzerne traumhafte Absatzchancen auf den neuen Märkten, andererseits sind die Folgen für den Mittelstand nur schwer abzuschätzen. Man kann nur hoffen, daß die Vertreter der Bundesregierung bei den Verhandlungen auf lange Übergangsfristen pochen werden. Wie bei der Währungsunion marschieren die Europäer lustig ins Abenteuer und verdrängen die ungelösten Probleme. Die Finanzmärkte registrieren diesen Leichtsinn und richten sich danach. Das ist der Hintergrund der "Verschwörung" gegen den Euro.


 
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