© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/00 23. Juni 2000

 
Fixpunkt im Fluß der Zeit
Sommersonnenwende: Vom heutigen Umgang mit einem umstrittenen kultischen Fest und Brauchtum
Lovis Schiller

Der 21. Juni ist einer der beiden großen Wendepunkte im Jahr. Auf die kürzeste Nacht folgt der längste Tag, die Sonne erreicht ihren höchsten Stand. Es ist Mittsommer, Sommersonnenwende. Kultische "Exzesse" im englischen Stonehenge, an den Exsternsteinen bei Detmold und an anderen, weniger "berüchtigten" Orten stehen jedes Jahr bevor.

Angesichts von New Age ist Religiosität fernab der Kirche für manchen ein heikles Thema. Der ZDF-Filmemacher Peter Z. aus Mainz (Name geändert), überzeugter Katholik, ist ein Gegner von Sonnwendfeiern: "Die sind doch viel zu stark aufgeladen mit irgendwelchen pseudoreligiösen Formen. Ich sehe es mit Erschrecken, daß auf der Esoterik-Welle diese angeblich keltischen und altgermanischen Reste emporgespült werden – wissenschaftlich unhaltbares Zeug und im Grunde doch nur die alte Nazi-Ideologie."

Ob in Skandinavien, Portugal, Irland oder Ungarn: Sonnenwendfeiern gibt es in ganz Europa und bei Nachbarvölkern wie den Slawen und den Arabern in Nordafrika. Aber: Mit welchen Vorstellungen dieser Ur-Kult bei naturreligiösen Völkern oder in der noch agrarisch geprägten Gesellschaft des Mittelalters auch immer verbunden war – die Zeiten, da der Mensch sich den Naturgewalten ausgeliefert glaubte, sind vorbei. Vom heimischen Weizen fühlen wir uns unabhängig; im Leben des Großstädters spielen die Jahreszeiten so gut wie keine Rolle mehr. Meinen Bekannten Peter Z. kann ich beruhigen: Zwar will ich mir zwei dieser Feiern einmal näher anschauen, aber ich bin nicht auf der Suche nach Brauch und Symbolik der "alten Germanen". Mich treibt vielmehr die Frage: Warum feiern heute manche Menschen die Sonnenwende trotzdem, trotz eines Lebens mit Blitzableiter, Zentralheizung und elektrischem Licht?

Auf einer großen Wiese, im Süden Baden-Württembergs, stehen die Kohten (traditionelle Zelte aus Lappland) des Freibundes, eines Jugendbundes in der Tradition der deutschen Jugendbewegung und der Bündischen Jugend aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit Stunden ist die Lagermannschaft dabei, den Feuerstoß aufzubauen. Mit Motorsägen, Äxten und Beilen ist sie in den nahen Wald gezogen. Dicke Baumstämme werden zersägt und pyramidenförmig zu einem Feuerbock aufeinandergeschichtet, lange und möglichst gerade Stangen freigeschlagen und wie ein hölzernes Zelt darangelehnt. Die Jüngeren sammeln Reisig.

Ich lerne Anne und Ute kennen, zwei Mädchen aus Schwaben. Die 23jährige Uta flicht aus Weidenzweigen ein seltsames Gebilde: Wie ein mannshohes Yin-Yang-Zeichen sieht es aus, das am Schluß mit Stroh umwickelt wird. "Das wird ein Feuerrad", erklärt sie mir. Bei Anne laufen heute alle Fäden zusammen. Seit einigen Jahren richtet sie die Sonnenwendfeiern aus. Sie ist zwanzig und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester in Peiting.

Gegen drei Uhr kommen die Gäste: Eltern, Freunde und Bekannte aus anderen Jugendbünden, auch ein paar Neugierige aus dem Dorf. Rund achtzig Leute jeden Alters und aller Schichten feiern gemeinsam ein fröhliches Fest im Freien, mit Familienspielen, Darbietungen wie der eines Feuerspuckers, Tanz und großem Buffet. "Seit ein paar Jahren feiern wir nachmittags, vor der eigentlichen Sonnenwende, Mittsommer, anknüpfend an die schwedische Tradition", erzählt Anne.

Kurz nach neun bricht die Dämmerung herein. Fackeln werden verteilt, und als schweigende Prozession ziehen wir über die Hügel. Nach dem fröhlichen Treiben stellt sich nun eine besinnliche Stimmung ein. Ein Rollenspiel hat Anne mir angekündigt, in dem personifizierte Planeten vorkommen. Der Feuerplatz ist erreicht, wir bilden einen großen Kreis. Ein junger Mann spielt einige Akkorde auf der Ziehharmonika. Es wird ganz ruhig. Da – ein Suchender bricht plötzlich in den Kreis: ein Mensch voller Fragen, an die Anwesenden. Aus dem Dunkel kommt die Antwort: "Alles Leben benötigt das Licht der Sonne und freut sich über die Hoch-Zeit des Sommers." Die Menschen danken der Sonne für das Empfangene mit einem weiteren Lied. Acht Mädchen treten auf, jede mit einer Fackel in der Hand, deren Licht für je einen Planeten stehen soll. Anne hat das Konzept zu dieser etwa einstündigen Feier entworfen, wenn auch die Sprecher ihre Rollen selbst improvisieren. Themen sind der Kreislauf der Sterne und die Liebe – als das unsichtbare Band, das alles Leben zusammenhält.

Hell erleuchtet kommt nun die Sonne selbst: Es ist Uta, mit drei großen Fackeln. Die Feuerräder werden entzündet. Als helle Feuerbälle rollen sie ins Tal. Ein Mädchen trägt ein Gedicht von Georg Stammler vor: "Schon ist das Dunkel tief erhellt – es geht die Liebe durch die Welt." Die Sonne bringt den Menschen das Licht. Feierlich entfachen sie damit den Feuerstoß. Nun senken auch die Umstehenden ihre Fackeln in die Flammen. Alle singen das 1814 in den Freiheitskriegen entstandene "Flamme empor". Meterweit in die schwarze Nacht hinein sprühen die Funken von der Spitze des Stoßes – ein Moment, der auch den Nüchternsten nicht kalt läßt. Es scheint, als ob der Feuerstoß das Irdische mit dem Himmlischen verbindet.

"Achtung!" warnt ein Junge. Es ist soweit: Die über sechs Meter hohe brennende Pyramide stürzt um. Feuer – eines der Ur-Erlebnisse des Menschen, altes Symbol für Reinigung und Wiedererneuerung. In weitem Rund wirft es helles Licht und harte Schatten. Einige singen, andere blicken gedankenverloren in die Flammen. Stunden geht das so. Jungen zwischen zwölf und sechzehn überspringen das Feuer, als Mutprobe. Sein Rauch galt einst als Unheil abwehrend und als Mittel gegen Seuchen. Mancherorts wurde die fruchtbringende Asche über die Felder gestreut. Sein Schein sollte segnen und galt als heilsam bei Augenleiden.

"Heute wird das Fest oft mit dem Nationalsozialismus assoziiert. Hattet ihr nie Probleme deshalb, vielleicht mit der Gemeindeverwaltung?" will ich wissen. Anne verneint: "Hatten wir hier, im südlichen Baden-Württemberg, nie. Da veranstalten viele örtliche Vereine auch Sonnenwendfeuer. Nur der Feuerwehr müssen wir Bescheid geben."

Fern am Horizont sind in dieser Nacht unter klarem Sternenhimmel die Lichtreflexe anderer Feuer zu sehen. Der Sinn einer solchen Feier liegt für Anne in ihrem Erlebnis. "Wir feiern an diesem Tag ein Fest mit der Natur, anknüpfend an kulturelle Traditionen. Wir erleben die jahrmillionenalte Faszination des Feuers. Mir wird dann bewußt, wie klein der Mensch als Teil der Schöpfung ist, und auch, wie fest die Gemeinschaft ist, die hier zusammenkommt."

Auf der Suche nach einer neuen Spiritualität

Ich fahre nach Thüringen zum nächsten Treffpunkt. Kleinkinder und Rentner, Dorfbewohner und Großstädter aus allen Teilen Deutschlands sind hier versammelt. Ich treffe auf Lehrer, Ingenieure und Journalisten. Anders als der Jugendbund dort feiern sie hier die Sommersonnenwende im erweiterten Familienkreis. "Wir nehmen uns extra zwei Tage frei. Dies ist sehr besonders. Wir betreiben keine Wochenendreligiosität", betont der Verleger und Gründer des alternativ-esoterisch ausgerichteten GAIA-Versands, Stefan Björn Ulbrich. Das Jahr gliedert sich für die meisten Teilnehmer hier in Sonnwenden und Tag-und-Nacht-Gleichen. Viele fasten in den Tagen vor diesem Höhepunkt. Auch am Festtag selbst gibt es für die Erwachsenen lange nichts zu essen.

"Wir feiern weder eine Lichtreligion noch ‘Deutschlands Erweckung’ wie einst Kommunisten oder Nationalsozialisten, sondern eine Zeremonie, die das Eingebundensein in den natürlichen Kreislauf wieder bewußt macht", meint Ulbrich. "Unser Ziel ist, die Harmonie wiederzufinden, die wir verloren haben. Die westliche Gesellschaft achtet die natürlichen Kreisläufe nicht. Ob Bodenversiegelung, Massentierhaltung, wachsende Großstädte oder Pestizideinsatz: Wir beweisen doch täglich, daß wir nicht im Einklang mit unserem Planeten stehen."

Auch hier finde ich Feuerstoß, Feuerräder und Zelte vor. Überall riecht es nach Heilpflanzen wie Johanniskraut, Beifuß und Arnika, denen nicht nur eine medizinische, sondern auch eine magische Wirkung nachgesagt wird. Im Hintergrund ist ein großes Tipi aufgebaut. Die Vorbereitungen sollen möglichst gemeinsam geschehen. "Erst wenn man den ganzen Tag zusammen war, ist man bereit, den Alltag loszulassen", findet der Verleger. "Die Indianer feierten früher zwölf Tage: vier Tage lang weltlich, vier Tage lang zeremoniell geprägt und wieder vier Tage weltlich. Einmal haben wir das auch ausprobiert. Das ist wirklich ein qualitativer Unterschied: Ganz logisch, denn Naturreligiosität kann sich in der Stadt nicht entfalten. Das braucht Zeit."

Es wird dunkel. Der Ritus, die Einstimmung auf Mutter Natur, beginnt. Zwei Männer und zwei Frauen rufen die vier Himmelsrichtungen an, dann die "vier Elemente". Alte Bräuche werden wiederbelebt: Manche werfen einen Blumenkranz in die Flammen und sprechen ihre persönlichen Wünsche aus – oft auch nur still für sich. Bis in die Neuzeit glaubten die Menschen auf dem Land, ins Feuer geworfene Johanniskräuter spenden Gesundheit und Fruchtbarkeit. Auch andere Dinge sollen im gemeinsamen Ritual bewältigt werden: "Hiermit übergebe ich dem Feuer meine Geldgier", ruft ein Publizist, "meine Ängstlichkeit" – eine Hausfrau, "meine krankhafte Eifersucht" – ein Student. Ein junges Paar springt Hand in Hand über das Feuer – ohne sich loszulassen, das bringt Glück. "Einen Feuersprung gibt es nur bei einer Verlobung", verrät Ulbrich, "und nicht sinnentleert wie andernorts."

Auch der in den neuen Bundesländern häufig in Sonnwendfeuern entsorgte Sperrmüll ist tabu. Für die Versammelten brennt hier kein Abfallvernichtungsfeuer, sondern ein Kultfeuer. Männer mit afrikanischen Djembes und indianischen Rahmentrommeln lassen sich nieder im Feuerrund, trommeln sich hinein in den ekstatischen Rhythmus, überlagert nur von den spitzen Schreien lasziv tanzender Frauen. Das 16jährige Gothic-Mädel steht neben dem 45jährigen Internet-Manager.

Feuerreden oder abgelesene Gedichte sind hier verpönt; erlaubt ist nur, "was aus einem selbst kommt". Eine indianische Pfeife, gefüllt mit "Sonnenwendkräutern" und Tabak, wird herumgereicht. "Wir benutzen Trommeln und Rasseln als schamanistische Elemente, nicht Gitarren und Geigen wie am Lagerfeuer," erklärt mir Ulbrich, "denn das Gute an diesen ist: Jeder kann mitmachen. Das lebendige Heidentum ist nicht geplant, und das unterscheidet unsere von vielen anderen Sonnenwendfeiern, wo es keinen Freiraum, nur einen konventionellen Rahmen gibt", glaubt der 37jährige. Je nach Mondstand und Befindlichkeit des Einzelnen seien die Feiern mal ruhig und besinnlich, mal eher wild. Bis einer lehmbeschmiert nackt um das Feuer tanzt, dauert es natürlich. Schon das Ausstoßen wüster Schreie und "Ur-Laute" ist für einen heutigen Mitteleuropäer ungewohnt.

Zu später Stunde, wenn alle Kinder im Bett sind, fallen auch die letzten Hüllen der Zivilisation: Endgültig nackt begeben wir uns in die eigens errichtete indianische Schwitzhütte. Sie ist ganz mit Holunderblüten ausgelegt, was sich als besonders schweißtreibend erweist. Man hört die Mägen knurren. "In die Schwitzhütte sollte man möglichst drogenfrei gehen: Das heißt: vorher keinen Alkohol, kein Nikotin, kein Marihuana", befindet der Zeremonienmeister. "Traditionell indianisch" ist beim Schwitzen auch das Sprechen von Gebeten – ein weiteres Mittel "zu lernen, mit den Schatten in uns selbst besser umzugehen", meint die Studentin neben mir.

Nach einem Sprung in den kühlen See gibt es ein festliches Essen und Met. Werden alle acht "germanischen Feiern" mit diesen Ritualen gestaltet? Ulbrich: "Nein, nur die beiden Sonnenwenden. Den Rest feiern wir mit den Kindern ganz normal: mit Ostereierbemalen und all so was."

Multikulturelle Vielfalt statt deutschen Artglaubens? frage ich mich. "Wir haben nicht den Anspruch, die authentische germanische Sonnenwende zu feiern – wir sind ja kein Germanenverein", meint Ulbrich. "Uns geht es um das tiefe religiöse Erleben, deshalb greifen wir auch auf Elemente aus anderen Kulturen zurück." Natürlich kann sich der Außenstehende fragen, inwieweit diese Ideale im Einklang mit der Realität stehen: Eine konsequente Rückkehr zur Natur bedeutet letztendlich, wieder als Bauer zu arbeiten und nicht in "modernen" Berufen. Doch die meisten sind sich dieses Bruchs im Alltagsleben bewußt. Der studierte Umwelttechniker betont: "Für mich ist Spiritualität, heidnische Religion nichts Historisches, kein universitärer Forschungsgegenstand, sondern das ist für mich mein Leben. Das gilt für viele Menschen, die sich naturreligiös fühlen. Ganz egal, ob germanisch, keltisch oder indianisch, es ist unerheblich, wie der Gott heißt. Wichtig sind die naturreligiösen Zyklen. Der bäuerliche Hintergrund ist natürlich nicht mehr da. Eine abgekoppeltere Ebene ist uns bei unseren Riten wichtig: Nicht unser Weizen soll gut stehen, wie es sich die Menschen in vorindustrieeller Zeit an diesem Tag erhofften, sondern unsere Projekte und unsere Kinder sollen wachsen und gedeihen."

Viele der hier Versammelten wollen vor allem eines: zurück. "Zurück bedeutet für uns vor allem, die Patina, die auf allem Bürgerlich-Zivilisatorischen liegt, abzustreifen, das Lebendige im Menschen hervorzuholen. Die bürgerliche Gesellschaft hat die Sommersonnenwende immer instrumentalisiert. Ob von Parteien, Feuerwehr und Vertriebenenverbänden oder als Touristenattraktion – immer wurde die Sommersonnwende benutzt, um irgend etwas im Außen zu erreichen. Wir aber wollen reines spirituelles Erleben, uns geht es um das Erwachen des inneren Menschen. Daher machen wir auch die Schwitzhütte: Alles muß zuerst im Selbst verinnerlicht sein. Ein Mensch, der spirituell in seiner Mitte steht, hat und schafft keine Probleme im Außen – er ist mit sich im Gleichgewicht", erklärt Ulbrich. Sein Buch "Im Tanz der Elemente. Kult und Ritus der heidnischen Gemeinschaft" steht mittlerweile in den meisten Universitätsbibliotheken. Fernsehteams fragen regelmäßig bei ihm an, doch er lehnt ab. Filmen ist nicht erlaubt. Er mag keine Journalisten.

Der Horizont färbt sich rötlich. Einige schlafen bereits, rund um das Feuer verteilt. Nur die Mütter mit Kleinkindern haben sich ins Haus begeben. Für die meisten aber dauert die Feier bis zum Morgen – schließlich wollen sie den Höhepunkt am Schluß bewußt erleben. Dann, um 5 Uhr 20, geht die Sonne auf, taucht alles in ein Meer aus Farbe.

Tag für Tag beschert uns ab jetzt weniger Licht. Doch die nächste Sonnenwende kommt bestimmt. Und wer weiß: Vielleicht läßt sich irgendwann einmal auch Peter Z. darauf ein.


 
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