© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/00 23. Juni 2000

 
Vasallentreue und Wolkenschieberei
Wie der Schriftstellerverband der DDR auf den Volksaufstand am 17. Juni 1953 reagierte
Doris Neujahr

Der Schriftsteller Hermann Kant hat sich einige Tage vor seinem 74. Geburtstag am 14. Juni in der Rostocker Ostseezeitung, mit einem Interview zu Wort gemeldet, einem Blatt, das bis Ende 1989 als strammes SED-Bezirksorgan fungierte und danach unter die Fittiche des Springer-Verlag geschlüpft ist. Kant ist aus Berlin in das mecklenburgische Dorf Prälank verzogen, wo er an einem neuen Roman arbeitet. Die Erwartungen daran sollte man nicht zu hoch schrauben, denn unter seinen vielen Büchern gibt es nur ein einziges, das nicht von Grund auf verlogen ist: "Der Aufenthalt" (1977), ein Roman über seine vierjährige Kriegsgefangenschaft in Polen.

Auf jeden Fall wird Kant kaum als Literat in Erinnerung bleiben, sondern als gnadenloser Exekutor der SED-Politik. Diesen Ruf begründete er im Juni 1979, als er in einer dramatischen Sitzung des DDR-Schriftstellerverbandes den Rauswurf von Stefan Heym, Erich Loest und sieben weiteren Autoren aus der Berufsorganisation durchpeitschte. Dieser Beschluß sollte sich als Todesstoß für den Verband erweisen, denn mit ihm verspielte er die Restbestände seines moralischen und intellektuellen Kredits.

Die neun Delinquenten hatten sich in einem offenen Brief an Honecker über das stickige geistige Klima in der DDR beklagt. Ihr Kollege Dieter Noll beschimpfte sie daraufhin im Neuen Deutschland als "kaputte Typen". Kant war da geschickter. Wem es gelingt, den Blick auf ihn von moralischen Empfindungen zu reinigen, kann an der diabolischen Rabulistik, die es damals entfaltete, sogar ein intellektuelles Vergnügen haben: Kant war ein befähigter Großinquisitor und seltenes Kollegenschwein!

Auf den Schriftstellerverband, dem er von 1978 bis 1989 präsidierte, und den Skandal von 1979 angesprochen, antwortete er jetzt: "Ich weiß nicht, wie es anders hätte gehen können ... Er (der Verband) war ein Stück DDR, wie sie insgesamt hätte sein können: mit Logik und Vernunft."

Damit räumt er alle Zweifel daran aus, daß sein erzwungener Rücktritt vom 21. Dezember 1989 und die Auflösung des Verbandes ein Jahr später verdient waren. In seiner ideologischen Bornierheit hatte Kant dem in jeder Hinsicht bankrotten Staat immer wieder bestätigt, wie recht er daran tat, jenen Schriftstellern, die, zaghaft genug, darauf hinwiesen, daß der Kaiser ja längst nackt war, die Instrumente zu zeigen, und den Verband damit als ein staatliches Aufsichtsorgan definiert. Gern berief er sich auf die "Kämpfe unserer Zeit" – und war in Wahrheit blind für sie, denn die wirklichen "Kämpfe" drehten sich um Demokratie und Meinungsfreiheit.

Andererseits war Hermann Kant als Vorsitzender durchaus repräsentativ, denn die Realitätsflucht war im Deutschen Schriftstellerverband (DSV) eher die Regel als die Ausnahme. Dessen eigentlicher Sündenfall datiert auch nicht erst auf 1976 (Biermann-Ausbürgerung) oder auf den Ausschließungen von 1979, sondern, wie so vieles in der DDR, auf den 17. Juni 1953. Wirft man einen Blick ins Verbandsarchiv, um etwas über das Verhalten der Mitglieder an diesem Tag zu erfahren, dann begegnen einem nicht nur bekannte Namen, sondern es wird auch klar, daß die Vasallentreue und ideologische Wolkenschieberei seines letzten Präsidenten tief in der Geschichte und Struktur des Vereins verankert war.

Auch damals, am 17. Juni 1953, wurde der Schriftstellerverband von den Ereignissen, den "Kämpfen jener Zeit", in Ost-Berlin völlig überrascht. Schließlich hatte er so viele wichtige Dinge zu erledigen. Eben hatte sein Sekretariat voller Stolz mitgeteilt, daß die Tätigkeit der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik (GST) im Hause "im Anlaufen" sei. Die GST wollte eine "Sektion Literatur" aufbauen und benötigte Hilfe. Am 12. Juni hatte ihn das regierungsnahe "Amt für Literatur" gemahnt, er nehme die "Kulturabkommen der Regierung nicht ernst". Eine gemeinsame Kommission sollte Abhilfe schaffen. Und am 19. Juni stand eine Versammlung im Ratskeller in Bautzen auf dem Programm. Nicht um die politischen Häftlinge im Bautzener Zuchthaus sollte es gehen, sondern um die Ideen des chinesischen Revolutionsführers Mao Tse-tung. Bei dieser Fülle ausgreifender Aktivitäten konnte den Dichtern und Verbandsfürsten die prosaische Wirklichkeit der DDR schon mal aus dem Blickfeld geraten!

Und nun steckten sie alle mittendrin im Geschehen! Ihr Verbandshaus an der Ecke Friedrichstraße/Französische Straße lag nur ein paar Steinwürfe vom "Haus der Ministerien" entfernt, wohin die Bauarbeiter der Stalinallee zogen, um von der DDR-Regierung Rechenschaft zu verlangen. Die Demonstranten rüttelten auch an der verschlossenen Tür des Schriftstellerhauses. Die Autoren rüsteten sich für einen Verteidigungskampf von Stockwerk zu Stockwerk. Der Verbandssekretär Kurt Barthel (Kuba), der sein lyrisches Talent durch politischen Fanatismus zerstört hatte, geriet in Panik. Die Fama geht um, er habe hilfesuchend bei Brecht angerufen, doch der hatte nur Spott für den ungeliebten Parteibarden übrig: "Kuba, Deine Leser kommen!"

Das "Neue Deutschland" legte die Sprachregelung fest

Nachdem die russische Besatzungsmacht am Nachmittag des 17. Juni die Machtfrage geklärt hatte, legte das Neue Deutschland auch die Sprachregelung fest, die, von einigen Modifizierungen abgesehen, bis 1989 gültig blieb. "Zusammenbruch des faschistischen Abenteuers", triumphierte das SED-Zentralorgan am 19. Juni, und fügte hinzu: "Wir denken nicht daran, den geschlagenen westdeutschen Agenturen dadurch in die Hände zu spielen, daß wir heute über diesen oder jenen unserer Fehler diskutieren, statt über ihr Verbrechen an der Deutschen Demokratischen Republik." Unbelehrbarer Stalinismus ging Hand in Hand mit Spießer-Ressentiments: Die "faschistische Brut Adenauers", die am 17. Juni am Werke gewesen sei, habe außer "alten Nazis" aus "Geschlechtskranken" und "homosexuellen Verbrechern" bestanden.

Die DDR-Autoren konnten sich in Umkehrung des bekannten Goethe-Wortes sagen, an diesem Tag nicht bzw. nur als Getriebene dabeigewesen zu sein! Erst, als "es gefahrlos war, schwärmten die Schriftsteller aus" (Stefan Heym), agitierend, schreibend, Resolutionen verbschiedend. Vereinzelt übten sie Kritik an "Überspitzungen" der SED-Politik, doch vor allem wollten sie dem unterentwickelten politischen Bewußtsein der Massen aufhelfen. Noch ein aufmüpfiger Zeitgenosse wie der Leipziger Erich Loest, der 1957 für sieben Jahre ins Zuchthaus gesteckt wurde, empfahl unter dem beziehungsreichen Titel "Elfenbeinturm und Rote Fahne" als Konsequenz aus dem 17. Juni lediglich eine aufgeklärt-nachsichtige Erziehungsdiktatur: Partei und Regierung "müssen aufmerksam auf das lauschen, was die Massen denken, sprechen, wollen, sie müsen gewissenhaft und liebevoll bemüht auf diese Gedanken, Gefühle und Wünsche eingehen und sie behutsam und geschickt in die Richtung lenken, die den Massen den größten Nutzen bringt." So gut wie keinem Schriftsteller war bewußt, was die historische Stunde tatsächlich geschlagen hatte.

Brecht ließ es zu, daß seine verhaltene Kritik an Ulbricht durch Verstümmelung des Textes in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Erwin Strittmatter monierte die fehlende Offenheit in der Presse, war sich aber sicher: "Hier demonstrieren streikende Arbeiter gegen sich selbst." Dem jungen Dieter Noll, der später mit dem Flakhelfer-Roman "Die Abenteuer des Werner Holt" (1963) auch im Westen bekannt wurde, verhalf das "Putsch-Abenteuer der Faschisten" zu neuer Landserromantik: "Ich habe seitdem Nacht für Nacht im Betrieb Wache gehalten, in einem Verlag, der die Bücher von Lenin, Puschkin und Thomas Mann herausgibt."

In der selbstkritischen und selbstironischen Autobiographie "Durch die Erde ein Riß", die 1981 im Westen erschien, hat Erich Loest anschaulich beschrieben, welches Kesseltreiben nach seinen Presseveröffentlichungen gegen ihn einsetzte. Er wurde nun selber als "faschistischer Provokateur" bezeichnet, ihm drohte der Ausschluß aus dem Berufsverband, er fürchtete seine Verhaftung. Allerdings verschweigt er, daß er daraufhin in einem neunseitigen Schreiben intensive Selbstkritik an "Von mir begangenen Fehlern nach dem 17. Juli 1953" übte. Der "faschistische Charakter der Provokation am 17. Juni", versicherte er, war mir von der ersten Stunde an klargeworden". Den Bauarbeitern sprach er rückwirkend jedes Recht auf ihren Protest ab. Das Dokument der erpreßten Selbstverleugnung endete mit einem Kniefall: "Ich stehe zur Partei, und ich kämpfe darum, ihr weiter anzugehören. Ich bitte die Partei, mir dabei zu helfen."

In der DDR-Literatur, bis 1989 als authentische "Gegenöffentlichkeit" gepriesen, blieb der Ertrag dieses Tages ebenfalls mager. Die berühmte Anna Seghers folgte in ihrem Roman "Das Vertrauen" (1968) weitgehend der offiziellen Parteilinie. Stefan Heyms Buch "Fünf Tag im Juni" (1959/74) ist zwar SED-kritisch, in modernistischer Machart verfaßt und deswegen in der DDR verboten worden, doch zur fälligen Systemfrage drang auch Heym nicht vor. Im Roman "Auf der Suche nach Gatt" (1973) des allzeit linientreuen Erik Neutsch wurde der Titelheld am 17. Juni von gewalttätigen "Konterrevolutionären" niedergeschossen.

Der 17. Juni widerlegte die nationale Rhetorik der DDR

Das gemeinste Dokument aber stammt von Stephan Hermlin, dessen Erzählung "Die Kommandeuse" (1954) aus einem Propaganda-Coup der SED einen zeitgeschichtlichen Mythos machte, den selbst Kritiker nie in Zweifel zu ziehen wagten. Am 17. Juni, lautete die propagandistische Vorlage, sei die verurteilte "KZ-Bestie" (Loest) Erna Dorn aus dem Gefängnis in Halle befreit worden. Anschließend habe sie die Menschen gegen den antifaschistischen Staat aufgehetzt und wurde dafür zum Tode verurteilt. Bei Hermlin heißt die KZ-Kommandeuse Hedwig Weber, Gesinnungsgenossen holen sie aus dem Gefängnis "Saalfeld". Während sie sich darauf freut, "bald wieder (ihre) geliebte SS-Uniform" anzuziehen und mit dem "roten Pack" abzurechnen, wird dieser Aufstand der Unterwelt rasch niedergeschlagen, sie selber verhaftet und schließlich – Gerechtigkeit muß sein – zum Tode verurteilt. Hermlin hat sich nach eigenen Angaben auf Gerichtsakten gestützt. Vor allem aber hat er in seiner Auftragsarbeit nicht bloß die SED-Lügen in elegante literarische Formen gegossen, sondern auch einen Justizmord gerechtfertigt. Denn neuere Studien haben zutage gefördert, daß die Herkunft der Dorn in Wahrheit nach wie vor unbekannt ist und es sich um eine hilflose, womöglich schwachsinnige Person handelte.

Die erstaunlichste Stellungnahme stammt von dem längst vergessenen Schriftsteller Karl Grünberg (1891–1972). Grünberg war ein Altkommunist und gehörte in den zwanziger Jahren zum "Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller". Sein Aufsatz "Was sagen die SED-Genossen?" konstatiert in bitteren Worten die Zerstörung seiner jahrzehntelang gehegten Sozialismus-Träume durch die SED und zeigt zugleich, wieviel man 1953 auch aus linker Perspektive über die Aussichtslosigkeit des "Projekts DDR" wissen konnte – wenn man bereit war, ideologische Scheuklappen abzulegen!

Grünberg stellte in der Bevölkerung "tiefe Depression" und "Angst" fest, die von der "gleichgeschalteten Presse" jedoch übergangen würden. Die Reparationslasten, die das zerstörte Land zu tragen habe, der gleichzeitige Aufbau einer Armee und der Schwerindustrie stellten eine Überforderung dar: "Nun ist der überspannte Bogen gerissen,und nun sagt man zu uns: schämt euch mal." Die Eruption vom 17. Juni sei keine Überraschung gewesen: "Ich wußte, daß wir wenig beliebt, ja sogar verhaßt waren." Er warnte vor dem Glauben, der Bestand der DDR sei nun gesichert: "Ich meine, wir sind längst nicht über dem Berg, denn auf sowjetischen Bajonetten kann man nicht lange sitzen."

Durch den 17. Juni sei die nationale Rhetorik der SED widerlegt worden: "Aus unserer Propaganda müssen wir die Forderung nach gesamtdeutschen Wahlen und Abzug aller Besatzungstruppen streichen, denn das nimmt uns keiner mehr ab. Ohne das Eingreifen der Sowjetfreunde wäre es uns sehr, sehr bescheiden gegangen." Bei freien Wahlen würde die SED nur zehn Prozent der Stimmen erhalten. Die Funktionäre lebten in einer "selbstgewählten splendid-isolation, in der sie ihre Wünsche und Ideen für die Wirklichkeit nehmen. Etwas ähnliches habe ich schon einmal 1932/33 erlebt, wo wir uns auch allerlei über den wachsenden revolutionären Willen der Massen vorgaukelten. Anscheinend ist nichts gelernt worden." Das Dokument war so brisant, daß es im Archiv des Schriftstellerverbandes mit dem Vermerk "vertraulich" abgelegt wurde.

Das Wesentliche, was über den 17. Juni 1953 und das SED-Regime überhaupt noch zu sagen war, hatte Grünberg damit gesagt. Im Deutschen Schriftstellerverband blieb sein Alarmruf ungehört. Die einzigen Maßnahmen, die auf eine gewisse Lockerung in der Kulturpolitik der DDR hindeuteten – die Abschaffung der "Staatlichen Kunstkommission" sowie des "Amt für Literatur" Anfang 1954 – gingen auf Interventionen der Akademie der Künste und des Kulturbundes zurück, während der DSV in geradezu sklavischer Parteitreue verharrte.

Am 1. Juli 1953 veranstaltete er in der Sporthalle Stalin-Allee eine "Großkundgebung" mit "Bezugnahme auf die Provokation des 17. Juni". Innerbetriebliche Schulungen wurden angeordnet. Am 15. September wurde den Mitarbeitern bei Androhung der fristlosen Kündigung verboten, mit ihrem Dienstausweis nach West-Berlin zu fahren. Verboten war aber auch, ihn in der eigenen Wohnung oder bei jemand anders zu hinterlegen, er sollte vielmehr in der Kaderabteilung abgegeben werden, die damit eine totale Kontrolle anstrebte.

Garniert wurde der straffe Kurs mit einer Pseudo-Liberalisierung. Die Verbandsführung konnte die staatlichen Organe davon überzeugen, daß die "Kenntnis der westdeutschen Literatur notwendig" sei, und teilte am 13. November 1953 hausintern mit, sie habe erreicht, "daß die Bibliothek mit Genehmigung des Staatssekretariats Mitgliedern des Verbandes bzw. Mitarbeitern, die noch namentlich festgelegt werden müssen, jeden Freitag um 9 Uhr Einsicht in die Neuerscheinungen der westdeutschen Literatur gibt". Hermlin, Kuba, Strittmatter und zwei Verbandsfunktionäre wurden "zur Einsichtnahme autorisiert und gemeldet". Sie sollten untereinander vereinbaren, wer von ihnen jeweils "die Einsichtnahme durchführt".

Diese Mischung aus politischer Unterwerfung, bürokratischer Kontrolle, Selbstentmündigung und Privilegienwirtschaft prägte den Verbandsgeist bis zum Schluß. Offensichtlich war aus dem 17. Juni nichts gelernt worden. Der DSV hatte sein Schicksal fest mit dem der SED als Staatspartei verknüpft. Und seinen späteren Bankrotteur im Präsidentenamt, Hermann Kant, hatte er sich schon damals mehr als verdient!


 
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