© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Stalins späte Opfer
Kino: "Est-Quest. Eine Liebe in Rußland" von Régis Wargnier
Ellen Kositza

Ein Passagierschiff auf dem Schwarzen Meer, 1946: man hält Kurs auf Odessa, an Bord wird gefeiert. Die da aus dem Westen in die Sowjetunion reisen, sind ehemalige Flüchtlinge, die nun wieder in die geliebte Heimat zurückkehren, voller Hoffnung auf einen Neubeginn im Land ihrer Väter.

Ein Jahr nach Kriegsende hatte Stalin eine großangelegte Propaganda-Aktion unter den nach der Oktoberrevolution in den Westen emigrierten Russen lanciert. Mit dem Angebot und dem Aufruf, sich am Neuaufbau des Landes zu beteiligen, gab man vor, den einst ausgewanderten Männern und Frauen bei politischer Rehabilitierung die Möglichkeit einer Rückkehr zu bieten. Tatsächlich jedoch war bereits vor ihrer Heimkehr über sie entschieden worden – die meisten von ihnen wurden in Lager deportiert, bisweilen auch sofort, etwa unter dem Vorwand eines Verdachts auf Spionage, hingerichtet, jedenfalls auf diese oder jene Art dem unmenschlichen Unrechtsregime eingegliedert. Wieviele Tausende Exilrussen auf diese Weise guten Glaubens in die Fänge Stalins gerieten, ist unklar, die genauen Zahlen hierüber sind in den unzugänglichen Archiven des KGB festgehalten.

Unter den Passagieren jenes Heimkehrerschiffes sind auch der junge Arzt Alexej (Oleg Menshikov), seine französische Frau Marie (Sandrine Bonnaire) und der gemeinsame Sohn Serioja. Von Tod und Zwangslager bleibt die junge Familie im Gegensatz zu den meisten Mitreisenden zunächst verschont, die Sowjets haben andere Pläne mit dem erfolgreichen Mediziner: Ihn wollen sie öffentlichkeitswirksam zu einem "Ideal-Heimkehrer" machen. Daß Alexej sich fügt, sich schließlich auch in die Parteihierarchie einfügen läßt, ist der Preis, den er zahlen muß, um seine Familie zu retten. Was mit den dreien geschieht, heißt in der Terminologie des kommunistischen Rußland "freiwillige Deportation": Wohnsitz und Ort des Arbeitseinsatzes werden vom Regime bestimmt, dem Verbot, die jeweilige Stadt zu verlassen, haben die Betroffenen durch eine – freilich erzwungene – Unterschrift zugestimmt. So verschlägt es Alexejs Familie nach Kiew. Sie wohnen dort in einer "Kommunalka", einer besonderen Art Gemeinschaftsunterkunft. Menschen verschiedenster Abkunft und unterschiedlichen Alters teilen sich die Zimmer einer Wohnung, Solidarität und Verrat leben hier mit wechselnden Gesichtern Tür an Tür. Während Alexej pflichtbewußt und duldend seiner Arbeit als Betriebsarzt nachgeht, gibt es für Marie nur einen Gedanken: Sie will zurück in den Westen, nach Frankreich, um ein Leben in Freiheit zu führen. Ihr alter Paß jedoch war bereits bei der Ankunft zerrissen worden – somit ist sie eine Bürgerin der Sowjetunion und als Ausländerin ohne Rechte.

Im jungen Sasha (Sergej Bodrov jr.) findet Marie jemanden, der ihre Einsamkeit und ihr Unglück teilt; seine Eltern wie auch seine Großeltern waren einst als "Volksfeinde" exekutiert worden, und auch er leidet Qualen an der Unfreiheit unter den Sowjets. Als hervorragender Schwimmer wurde Sasha dennoch aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen, doch dank Maries Zuspruch und mit ihrer Hilfe gibt er nicht auf: Im eisigen Fluß und stets gegen die Strömung absolviert er Tag für Tag ein hartes Training. Mit der Zeit scheint die Ehe von Alexej und Marie dem immensen Druck, der auf der Familie lastet, nicht standhalten zu können, und Marie und Sasha, geeint durch einen Traum, eine Hoffnung und ein Ziel, werden ein Liebespaar. Beiden scheinen sich Chancen auf ein Entkommen in den Westen zu eröffnen: Marie lernt durch Zufall die berühmte französische Schauspielerin Gabrielle (Cathérine Deneuve) kennen, die die junge Frau sofort in ihr Herz schließt und ihr möglicherweise zu helfen weiß, und Sasha gelingt die Wiederaufnahme in den Schwimmkader – die Möglichkeit, durch die Teilnahme an der Europameisterschaft nach Wien zu gelangen, scheint greifbar nahe. Beide Hoffnungen scheitern zunächst, doch mit Maries Hilfe unternimmt Sasha dann den Versuch, meilenweit durch das eisige Meer zu schwimmen, um auf einem türkischen Frachter der Unfreiheit zu entkommen. Maries Fluchthilfe wird aufgedeckt, sie wird zu etlichen Jahren im Straflager verurteilt. Indessen zeigt sich, daß Alexejs Fügung in das System kein wirkliches Aufgeben war, genausowenig, wie je die Liebe zu seiner Frau gestorben war, und als nach Stalins Tod Marie aus der Gefangenschaft entlassen wird, scheint es wieder Hoffnung zu geben...

Dieser ergreifende Film über das Schicksal einer jungen Familie, die in die grausame Falle des Stalinismus tappt, dadurch jahrzehntelanges Leiden erfährt und dennoch wenigstens überlebt, berührt ein halbvergessenes, nahezu unbekanntes Kapitel der kommunistischen Nachkriegsgeschichte. Die gesamte Geschichte, die Personen, die Darstellung des Alltags im Kommunismus sowie der russischen Volkstümlichkeit wirken durchgehend und bis ins Detail authentisch. Der Film bewegt, ohne sich in demokratisches Pathos zu verlieren, er ist keiner dieser beliebten, oft freilich amerikanischen Filme, die Gut und Böse mit simpler Logik unterscheidbar machen.

Bedenklich stimmt, wie überaus stiefmütterlich dieser Film von seiner Verleihfirma UIP behandelt wird: zunächst der unsägliche Titel samt nichtssagendem Untertitel, dann die völlig fehlende Erwähnung gerade dieses Neustarts auf der UIP-Internetseite, zuletzt ein ungewöhnlich später Pressetermin – vielleicht verhilft jedoch der Erfolg in den USA und die Tatsache, daß "Est-Ouest" bereits für einen Oscar nominiert wurde, dem Film zu größerer Popularität.


 
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