© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Die Dämme brechen
CSU-Vorstoß: Die Union gibt den Widerstand gegen die Einwanderungspolitik auf
Paul Rosen

Der Kampf um den letzten Einwanderer hat begonnen. Vorbei sind Abschottungen, Ausweisungen und Asylverfahren. Oppositioneller Widerstand ist nicht mehr feststellbar: Selbst Bayerns Innenminister Günther Beckstein, sonst ein CSU-Hardliner, der Kampfhunde in ganz Europa verbieten möchte, wedelt mit einer "Blue Card", um ausländische Fachkräfte aller Branchen anzuwerben, während Kanzler Schröder schon lange seine "Green Card" für Computer-Spezialisten bereithält.

Mit der "Blue Card" haben die bürgerlichen Kräfte in Deutschland endgültig eingeräumt, daß sie den Kampf um die nationale Identität verloren gegeben haben. Daß das Eingeständnis nun zuerst von der CSU und Beckstein kam, ist besonders enttäuschend. Mit der "Blue Card" geben die Konservativen auch zu, daß sie Schröder und seiner SPD die Meinungsführerschaft in einem hochsensiblen Thema überlassen und ihren bisherigen Grundsatz, daß Deutschland kein Einwanderungsland sei, über Bord geworfen haben.

Jetzt kommt auf das Land eine Lawine zu: Schröder holt Computer-Spezialisten aus Indien und Bulgarien, weil diese Leute auf dem deutschen Arbeitsmarkt Mangelware sind. Sachdienliche Hinweise, daß es bundesweit 60.000 Ingenieure gibt, die man schneller umschulen könnte, als ein Inder je die deutsche Sprache erlernen kann, werden vom Kanzler schon lange nicht mehr zur Kenntnis genommen. Und Beckstein dürfte ukrainische Kunstlehrer ins Land holen, weil die deutschen Universitäten nicht genug ausgebildet haben. Oder polnische Putzfrauen, weil viele Bundesbürger keine Lust mehr haben, für Löhne unter dem Sozialhilfesatz arbeiten zu gehen. So wollen Politiker die Probleme lösen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten selbst geschaffen haben.

Die Unionsparteien begeben sich aufs Glatteis, wenn sie glauben, über die Karten-Debatte zu einer Änderung des Asylrechts mit Reduzierung der Zahl der Asylbewerber und der illegalen Einwanderer zu kommen. Doch glauben und wollen sie das überhaupt noch? Man muß sich mit der Entwicklung von CDU und CSU in den letzten Monaten vertraut machen, um die Frage beantworten zu können, ob hinter alledem vielleicht Angela Merkels Versuch stecken könnte, die Union in der "Neuen Mitte" zu positionieren und den Ballast alter Positionen abzuwerfen. Den Anfang machte der neue stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach, der zwar noch pflichtgemäß – um die alte Klientel ruhig zu halten – die Umwandlung des Grundrechts auf Asyl in eine schwächere institutionelle Garantie forderte. Doch Bosbach erblickte in der Zuwanderung auch eine "Bereicherung."

Vor Wochen noch sorgte die CSU für Ordnung in der gemeinsamen Fraktion. Dem Bosbach-Papier wurden die Zähne gezogen, wichtige Passagen gestrichen und der Rest zum Diskussionspapier der Fraktion erklärt – ohne jede Verbindlichkeit. Doch Bayerns Beckstein toppt Bosbach. Und wie alle vor ihm ist er in seiner Kabinettsvorlage der Frage ausgewichen, ob es gegenüber der Dritten Welt vielleicht unanständig sein könnte, die dortigen Eliten durch Green-Card-Angebote zu dezimieren. Beckstein glaubt darüber hinaus, daß Zuwanderung wenigstens teilweise die demographischen Probleme in Deutschland lösen könnte. Dabei hatte der Sozialversicherungsexperte Bernd Rürup bereits vor mehreren Jahren darauf hingewiesen, daß Zuwanderung als Mittel gegen Überalterung untauglich sei. Sie bringe dagegen ältere Arbeitnehmer und Frauen, die nach der Kindererziehung wieder in einen Beruf einsteigen wollen, um ihre Jobs. Rürup ist als Zeuge unverdächtig: Bevor der Wissenschaftler zu einem der Wirtschaftsweisen der Bundesregierung ernannt wurde, war er gern gesehener Referent auf SPD-Veranstaltungen.

Mit dem Vorschlag, die gebärfaule deutsche Stammbevölkerung durch Zuwanderung wieder auf demographisches Normalmaß zu bringen, macht Beckstein ein völlig neues Faß auf. Natürlich warnt der Innenminister in seinem Papier auch mit schöner Regelmäßigkeit davor, die Integrationsfähigkeit der deutschen Bevölkerung zu überschätzen.Doch wer der drohenden Überalterung gegensteuern will, muß die Einwanderungstore schon sehr weit öffnen: 460.000 Einwanderer pro Jahr seien nötig, um Deutschland auf dem Altersdurchschnitt von 1996 zu halten, errechneten Bevölkerungswissenschaftler der Vereinten Nationen. Selbst der SPD war die Zahl nicht mehr geheuer. Die Zuwanderung, so heißt es in einem SPD-Papier zum Kongreß "Generationengerechtigkeit", dürfe "keinesfalls der primäre Lösungsansatz sein". Einwanderung sei daher nur ein Mittel unter vielen, "um der demographischen Herausforderung gerecht zu werden". Aber Beckstein toppt selbst noch die SPD.

So dürfte sich Deutschland in Kürze für ganze Heerscharen von Ausländern öffnen, nachdem in der Debatte über ausländische Fachkräfte ein Konsens zwischen den Bundestagsparteien in greifbare Nähe gerückt ist. Die Motive sind unterschiedlicher Natur. Die Grünen und Teile der SPD streben sicher noch nach der multikulturellen Gesellschaft. Welche Ausländer zuwandern, ist diesen Politikern auf dem Weg zum Ziel ziemlich gleichgültig. Die deutsche Großindustrie ist wie in den sechziger Jahren an billigen Arbeitskräften interessiert. Und Teile der Union hören entweder auf die Industrie oder wollen gerne – zur Verwischung der Unterschiede – rot-grüne Positionen kopieren.

Der Widerstand ist nur noch gering. Christian Wulff, stellvertretender Vorsitzender der CDU und Leiter der Sozialstaatskommission der Partei, hat in den letzten Monaten offenbar eine Menge dazugelernt. "Wenn arbeitslose polnische Akademiker hier Spargel stechen, damit der für hiesige Arbeitslose günstig zu kaufen ist, erinnert mich das an Verhältnisse wie im Ölstaat Brunei, ohne daß uns dessen Rohstoffvorkommen zur Verfügung stehen", kommentierte Wulff die Debatte. Der smarte Niedersachse stemmte sich auch gegen Becksteins Lösungsansätze für das Demographie-Problem: "Wir können nicht einerseits unsere statischen Arbeitsmärkte hinnehmen und andererseits auf flexiblere Einwanderer setzen. Das wird volkswirtschaftlich nicht finanzierbar sein."

Doch die Dämme sind gebrochen, mag die Sozialstaatskommission der CDU noch so starke Bedenken haben und die SPD auf Kongressen demnächst vielleicht sogar zum Kinderkriegen aufrufen. Schröder ist kein Mann mit staatspolitischer Verantwortung. Ihm geht es um das Erhaschen kurzfristiger öffentlichkeitswirksamer Erfolge, egal ob ein Baukonzern zu retten oder eine Einwanderungswelle in Gang zu setzen ist. Die Merkel-CDU und inzwischen auch die CSU haben dem Gaukler aus Niedersachsen nichts mehr entgegenzusetzen. Unter Frau Merkel räumt die CDU eine Position nach der anderen. Für Kenner der Szene kein Wunder: "Die ist", sagte kürzlich ein hochrangiger CSU-Politiker, "völlig wertneutral."


 
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