© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Menschen, die zu dienen bereit sind
Nördliches Ostpreußen heute: Deutsches Engagement ist lediglich auf privatem Sektor spürbar
Götz Eberbach

Das nördliche Ostpreußen, der "Oblast Kaliningrad", wie es heute offiziell heißt, ist erst seit der "Wende" in Rußland für Besucher zugänglich. Vorher war das Gebiet nicht nur für ausländische Besucher Sperrgebiet, es durften sich zum Beispiel auch Rußlanddeutsche dort nicht niederlassen.

Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich das geändert. Es sind deshalb nicht wenige Rußlanddeutsche, die aus den Deportationsgebieten im Süden der alten UdSSR mit mehr oder weniger Zwang zur Abwanderung veranlaßt wurden, nach Ostpreußen gekommen, wenn auch die meisten nach einiger Zeit weiter in die Bundesrepublik ziehen. Im Gegensatz zum südlichen (polnischen) Ostpreußen gibt es hier nur noch eine Handvoll "echte" Ostpreußen, meist aus dem Kreis der sogenannten "Wolfskinder". Heute kommen auch Touristen auf Besuch, um ihre alte Heimat noch einmal zu sehen. Allerdings muß man dafür an der Grenze meist stundenlage Wartezeiten sowohl bei der Ein- wie bei der Ausreise in Kauf nehmen. Die Sowjetunion hatte 1945 dies agrarisch geprägte Gebiet nicht aus wirtschaftlichen Gründen annektiert, wenn auch der Besitz eines eisfreien Hafens (Heimathafen zahlreicher Hochseefischfangflotten) eine gewisse Rolle gespielt hat, sondern in erster Linie aus strategischen Gründen: man hatte so die ständig aufmüpfigen baltischen Republiken in die Zange genommen, das Gebiet war strategischer Stützpunkt, in dem große Truppenverbände konzentriert waren, auch Raketenabschußbasen befanden sich dort, und von Königsberg gab es eine direkte Bahnverbindung mit europäischer Normalspur nach Berlin (die russischen Bahnen haben normalerweise eine andere Spurweite). 1993 konnte man noch zahlreiche alte deutsche Lokomotiven und Wagen sehen, die für den Tag "X" in Bereitschaft standen. Alle diese Dinge spielen heute keine große Rolle mehr. Auch der Hafen hat kaum noch Bedeutung, die Fährverbindung von Königsberg nach Kiel, die zunächst eingerichtet wurde, ist inzwischen wieder eingestellt, die Landwirtschaft siecht dahin, die wenigen Industriebetriebe, soweit sie überhaupt noch arbeiten, arbeiten meist mit Verlust.

Nach der Wende gab es große Hoffnungen auf Aufschwung

Diese Entwicklung hängt mit der neuen geopolitischen Lage zusammen. Der Oblast ist durch den Zerfall der Sowjetunion nun durch die baltischen Staaten und Weißrußland vom eigentlichen Rußland getrennt. Das wirkt sich verheerend auf seine wirtschaftliche Situation aus. Schon vor der Wende war der Oblast eines der ärmsten Gebiete der Sojwetunion. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die meisten Menschen leben unter Bedingungen, die sich ein Mitteleuropäer kaum vorstellen kann.

Dabei hatte man nach der Wende große Hoffnungen gehabt. Der damalige Chef des Rayons, Matotschkin, wollte die Landwirtschaft wieder aktivieren und förderte deshalb die Einwanderung von Rußlanddeutschen, er sprach davon, daß bis zu einer Viertelmillion aufgenommen werden könnten. Man träumte von einer Freihandelszone, einem "Hongkong der Ostsee" und hoffte dabei sehr auf deutsche Unterstützung. Es wird sogar behauptet, daß Jelzin das Gebiet Deutschland zum Kauf angeboten habe, Außenminister Genscher habe das aber abgelehnt. Sicher ist, daß immer wieder von den verschiedensten russischen Gruppen mindestens eine stärkere Zusammenarbeit mit Deutschland gewünscht wurde, besonders an der Universität Königsberg finden sich unter Professoren und Studenten nicht wenige Fürsprecher einer engen deutsch-russischen Zusammenarbeit.

Aber alle diese Blütenträume wurden von Moskau aus sabotiert, wobei sich oft eine unheilige Allianz bildete zwischen dem Kommunistenchef Sjuganow und Schirinowksi, den in Deutschland manche Leute als "Deutschfreund" bezeichneten, der in Ostpreußen aber mit Sjuganow zusammen auftrat und den Menschen eine neue Landverbindung mit Rußland durch die Annektion von Südlitauen, einschließlich des Memellandes, versprach" Versuche russischer Kreise, den Städten und Dörfern ihre alten deutschen Namen wiederzugeben, scheiterten am Veto der Moskauer Duma, die sogar ursprünglich den Gebrauch deutscher Speisekarten untersagte (und schließlich gnädig zweisprachige Speiskarten gestattete!). Das deutsche Konsulat in Königsberg, das fest zugesagt war, konnte bis heute nicht eingerichtet werden.

Andererseits hat auch die Bundesregierung deutsche Interessen wenig energisch vertreten. Als Grund wurde unter anderem angegeben, daß man Angst habe, die Polen würden eine stärkere deutsche Präsenz in Nordostpreußen nicht dulden. Ich selbst konnte bei einem Treffen von Vertretern der Rußlanddeutschen in Ostpreußen mit Vertretern aus Bonn hören, wie der Vertreter Bonns erklärte: "Ostpreußen ist kein besonders förderungswürdiges Gebiet!" Das "Deutsch-Russische Haus" in Königsberg, das immerhin eingerichtet wurde, habe als primäre Ansprechpartner die Russen. Doch wurde gnädig gestattet, daß auch Rußlanddeutsche sich an den Veranstaltungen beteiligen dürften. Aber selbst die Bitte der Rußlanddeutschen, die verschiedenen privaten deutschen Aktionen zu koordinieren, wurde abgelehnt. Das geschah alles noch unter der alten Bundesregieurng, ist aber unter der rot-grünen Regierung nicht besser geworden.

Entrüstung über die Schmä-hung deutscher Soldaten

Hat auch die Bundesregierung sich wirklich nicht allzuviel in Ostpreußen engagiert, so heißt das nicht, daß es kein deutsches Engagement seitens privater Initiativen in Ostpreußen gibt. Vielfach sind die Kreisgemeinschaften der heimatvertriebenen Ostpreußen in ihrer alten Heimat tätig. So kam zum Beispiel eine Abordnung der Kreisgemeinschaft Stallupönen im letzten Jahr nach Trakehnen (heute "Jasnaja Poljana"). Sie wurden von der russischen Schule, die in dem alten Landstallmeisterhaus untergebracht ist, empfangen und von Schulkindern in der alten ostpreußischen Tracht begrüßt. Dann wurde das mit deutscher Hilfe eingerichtete Museum gezeigt, das das früher weltbekannte Gestüt Trakehnen zum Thema hat. Die Ostpreußen brachten ihrerseits Bilder vom "alten" Trakehnen mit und eine beträchtliche Hilfe für die dringend nötige Renovierung der Schule. Anschließend wurden in der Turnhalle von den Schülern deutsche und russische Volkstänze aufgeführt (daß einige Kinder die ostpreußischen Tänze in Seppelhut und Lederhose tanzten, wurde nicht tragisch genommen) und deutsche und russische Volkslieder gesungen, auch das "Ostpreußenlied", "Land der dunklen Wälder"! Wenige Tage danach trafen sich deutsche und russische Kriegsteilnehmer ebenfalls in Trakehnen. Bei den Ansprachen betonten die ehemaligen russischen Soldaten (und Soldatinnen!), wie sehr sie sich freuen, daß man sich hier nun friedlich treffen könne. "Wir waren junge Leute, ihr wart junge Leute, als wir in einen Krieg mußten, den wir und ihr nicht gewollt haben, sondern die Politiker. Jeder versuchte, das Beste für sein Land zu erreichen – und jeder wollte gerne wieder lebendig nach Hause kommen!" Auf die Bemerkung eines deutschen Teilnehmers, daß die deutschen Soldaten heute in Deutschland als Mörder bezeichnet werden dürfen, daß man sie als "Tätergeneration" bezeichne, zeigten sich viele der russischen Soldaten entrüstet. Ein Teilnehmer sagte "Sagen Sie Ihren Landsleuten, daß wir die deutsche Soldaten zwar gefürchtet, aber auch respektiert haben, und ihr habt nichts getan, was wir nicht auch getan haben!" Bei dem Treffen (bei dem auch der Landrat des Kreises anwesend war) wurden über hundert Pakete an notleidende russische Veteranen bzw. ihre Angehörigen ausgegeben. So haben die bei uns oft als "Revanchisten" verleumdeten Heimatvertriebenen und Kriegsteilnehmer mehr für Versöhnung und Verständigung getan als unsere "Friedenskämpfer", von denen ich übrigens noch keinen in Ostpreußen getroffen habe.

Auch die Kirchen sind in Ostpreußen tätig, so ist zum Beispiel in Gumbinnen (heute Gusew) die alte "Salzburger Kirche" wiederaufgebaut worden und dient nun der kleinen evangelischen Gemeinde. Daneben entstand eine Diakoniestation, in der täglich über hundert Kinder verpflegt weden, natürlich unabhängig vom religiösen Bekenntnis. Übrigens hatten das Geld für die Kirche weitgehend die vertriebenen Gumbinner aufgebracht, auch viele evangelische Gemeinden hatten gespendet, sogar das Land Salzburg gab eine Spende – nur die Evangelische Kirche Deutschlands glänzte durch Abwesenheit.

Daneben sind noch viele andere Gruppen tätig, leider auch manche, die mit einem Säbel rasseln, den sie gar nicht haben! Diese vereinzelten "schwarzen Schafe" führen dazu, daß die ganze Arbeit in und für Ostpreußen dann von gewissen Kreisen gerne in die "rechtsradikale Ecke" gestellt wird. Aber viele dieser kleineren Gruppen leisten eine gute Arbeit, so wird zum Beispiel in Trakehnen seit acht Jahren in Absprache mit der russischen Schule auf freiwilliger Basis Deutschunterricht erteilt für jeden, der sich dafür interessiert.

Der niedrige Lohn wird oft monatelang nicht ausgezahlt

Das ist wichtig für alle die Rußlanddeutschen, die weiter nach Deutschland wollen, aber auch für alle anderen, da Deutschkenntnis an vielen Arbeitsplätzen von Vorteil ist. Es hat zum Beispiel erfreulicherweise BMW in Königsberg eine Filiale eröffnet. Aber auch im (bisher fast ausschließlich deutschen) Tourismus sind Deutschkenntnisse von Nutzen. Doch hat der Unterricht noch eine andere Funktion: Es fehlt weitgehend eine gewachsene dörfliche Infrastruktur, wie wir sie mit Kirchengemeinden und Vereinen haben. Der Deutschunterricht ist auch eine Möglichkeit, sich zu treffen und auszusprechen und dabei etwas über das so ferne Deutschland (von dem man oft sehr ideale Vorstellungen hat) zu erfahren, und er vermittelt das Gefühl, nicht alleingelassen zu werden.

Die Arbeitslosigkeit ist groß und wer Arbeit hat, bekommt seinen erbärmlich niedrigen Lohn oft monatelang nicht ausgezahlt. Ein Arbeiter auf der ehemaligen Sowchose (Staatsgut) in Trakehnen bekommt umgerechnet 25 bis 45 Mark. Das ist nicht ganz so schlim, wie es sich anhört, denn er hat so gut wie keine Mietkosten, er hat vielleicht einen Kartoffelacker, sicher einen großen Garten, eine Kuh, Hühner, vielleicht Schafe oder Gänse. So wird er in der Regel nicht hungern. Aber ein Paar durchschnittliche Schuhe kostet eben etwa 60 bis 70 Mark. Die Landwirtschaft ist weitgehend bankrott, große Flächen liegen brach oder werden nur extensiv genutzt, die Drainageanlagen sind zerstört. (Das hat den Vorteil, daß man wohl nirgends so viele Störche sieht wie in Ostpreußen!) Dabei werden in das Gebiet, das früher die Produkte seiner Landwirtschaft in viele Großstädte Deutschlands lieferte, heute Lebensmittel aus Polen und Litauen eingeführt. Die Landwirtschaft und dazu der Tourismus könnten nach wie vor für viele eine gute Erwerbsquelle sein, denn das Land hat viel zu bieten, aber das setzt Investitionen voraus und eine Verwaltung, die nicht alle Initiativen bürokratisch sabotiert und den Tourismus, anders als die baltischen Staaten, durch Visumzwang und endlos schikanöse Wartezeiten an der Grenze behindert. Eine touristische Infrastruktur entsteht aber nur sehr langsam. Diese Perspektivlosigkeit, besonders die mangelnden Berufschancen für die Jugend, wirken sich verheerend aus. Alkoholismus, in Königsberg auch Drogensucht, Kriminalität und Prostitution (Königsberg hat die höchste Aidsrate in Rußland!) sind die Folge. Wer kein Geld hat, und das ist bei den meisten Bewohnern der Fall, kann meist keine Ausbildung bekommen. Der Staat scheint bisher keinerlei Konzeption für das Land zu entwickeln. Das gilt auch für die Vermarktung der Bodenschätze (der bekannte Bernstein und seit 1945 auch Erdöl).

Dabei gibt es durchaus Initiativen, auch von privater russischer Seite. So bemüht sich zum Beispiel die Familie Morosow bei Trakehnen, die Pferdezucht wieder neu zu begründen. Konstantin Morosow gab eine gute Stellung in Südrußland auf, verkaufte praktisch allen Besitz und fing mit fünf Pferden an. Er lebte unter entsetzlich primitiven Verhältnissen in einer Bretterhütte und baute dann auf den Ruinen einen deutschen Gutshofes einen Stall (mit einer Wohnecke für seine Familie). Heute hat er bereits wieder über 40 Pferde, und zwei neue Ställe sind im Bau. Mit geradezu preußischem Pflichtbewußtsein sagt er "Erst Futter für Pferde, dann Stall für Pferde, dann erst kommt Familie! Trakehnen muß wieder Vadderland für Pferde werden!" Und seine Familie unterstützt ihn – seine Frau lernt am Abend nach harter Landarbeit (natürlich haben sie auch Hühner, eine Kuh, Schweine) noch von 21 bis 22 Uhr Deutsch. Solche Initiativen sollten unterstützt und nicht behindert werden.

Es müßte und sollte eine deutsche Aufgabe sein, dabei zu helfen, daß dieses Land wieder "auf die Beine kommt", das kann nicht durch "Ostlandritter" geschehen, sondern nur durch Menschen, die bereit sind, zu dienen. Sollte das nicht gerade in Preußen, in der Heimat Immanuel Kants (dessen Grab übrigens in Königsberg gepflegt wird) möglich sein?


 
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