© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000

 
Kolumne
Grundrisse
von Klaus Motschmann

In den Auseinandersetzungen um die Zukunft Europas wird auffällig viel davon gesprochen, daß das "europäische Haus" auf einem festen Fundament errichtet werde – auch von Politikern, Wirtschaftlern, Publizisten und Intellektuellen, die nicht dem linken Spektrum zuzurechnen sind. Das klingt traditionsbewußt und vermittelt die Anmutung der Bewahrung unserer abendländisch-christlichen Werteordnung. Offensichtlich soll auf diese Weise Befürchtungen begegnet werden, die in dem Maße wachsen, wie sich die Konturen des "europäischen Hauses" in der Realität abzuzeichnenQuarantänestationen für unbotmäßige Bewohner dieses Hauses (zur Zeit Österreich). Nun kann das Bild vom "festen Fundament" auch das Gegenteil versinnbildlichen, und vieles deutet darauf hin, daß dies auch der Wirklichkeit entspricht.

Neue Häuser sind in Geschichte und Gegenwart sehr oft auf den "festen Fundamenten" zerstörter oder abgerissener Gebäude errichtet worden, und zwar ganz bewußt in symbolischer Absicht. Wie viele Moscheen sind auf den Fundamenten christlicher Kirchen errichtet worden?! Umgekehrt freilich auch. Wieviel kommunistische Parteigebäude in der Sowjetunion sind auf den Fundamenten christlicher Klöster, Seminare und Einrichtungen sonstiger Klassenfeinde gebaut worden, auf denen sie bis heute stehen?! Bislang ist noch niemand auf die Idee gekommen, darin einen Beweis für die Bewahrung der gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen dieser Völker zu erblicken.

Ganz im Gegenteil! Mit diesen Bildern von den Fundamenten neuer Häuser wird der Abbruch gewachsener Traditionen symbolisiert. Ihre Trümmer eignen sich allenfalls noch als Baumaterial für die Fundamente, auf denen gänzlich neue Gebäude entstanden sind bzw. noch immer entstehen. Insofern zerstreuen die Hinweise auf die "festen Fundamente" des europäischen Hauses die um sich greifenden Befürchtungen nicht, sondern verstärken sie. Europa wächst nicht, Europa wird konstruiert!

Wenn es wirklich um die Bewahrung und Entwicklung der großen Traditionen des Abendlandes ginge, würde man zur Veranschaulichung sehr viel mehr von den Wurzeln unserer Kultur als der Grundlage künftiger Ordnungen sprechen.

Wurzeln geben dem Boden halt und verhindern Erosionen. Ohne Wurzeln beginnt die Versteppung und schließlich die Verwüstung, die auch den besten Fundamenten bedrohlich werden kann. Die ersten Zeichen sind bereits erkennbar.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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