© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
Im Berg hat man doch Platz genug
Schweiz: Im Kanton Uri regt sich Widerstand gegen die Transitlawine aus EU-Europa
Paul Leonhard

Altdorf. Oliver Steck turnt hoch über dem Vierwaldstätter See. Mit einem Helfer zieht er den Strick enger und enger um das weiße Tuch. Geschafft. "Geknechtet mit Seilen" sei das Denkmal jetzt ein Symbol für den Verrat des Bundesrates an den Urnern, sagt der 36-jährige Landschaftsgestalter. Mit der Verhüllung des Rütlischwur-Denkmals in Flüelen nahe der Hauptstadt des Schweizer Kantons Uri haben Ende Juni mehr als hundert Urner gegen die Verkehrspolitik des Bundesrates protestiert.

Von einer "schwarzen Woche" für den Kanton spricht Stefan Simmen von der Bürgerallianz "Neat in den Berg". Vor dem berühmten Tell-Denkmal in der Kantonshauptstadt Altdorf, die Touristen mit dem Slogan "Ein Dorf im Herzen der Schweiz" anlockt, haben Demonstranten ein Plakat mit der Aufschrift "Vater, es wird eng in Uri" aufgehängt. Der Urner Regierungsrat Hansruedi Stadler sprach von einer "verkehrspolitischen Vergewaltigung des Katons" und der Züricher Tages-Anzeiger titelte "Die Neat überfährt das Land".

Mit der Ruhe im Reusstal ist es jetzt vorbei: Der Nationalrat gab Grünes Licht für die unverzügliche Planung einer zweiten Röhre für den Autotunnel durch den Gotthard und der Bundesrat entschied die Streckenführung für die Neue Alpentransversale (Neat). Damit stecken die Bundespolitiker die verkehrspolitischen Ziele für die nächsten 20 bis 30 Jahre fest -ohne Rücksicht auf die Betroffenen. Dabei hatte die 1994 beschlossene Alpen-Initiative einer Verlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene verfassungsgesetzlich festgeschrieben und den Ausbau der Transitstraßen verboten. Damit wurde auch der Bau einer zweiten Röhre durch den Gotthard ad acta gelegt.

Sechs Jahre später fordert vor allem der Tessin zusätzliche Kapazitäten. Der Verkehr auf der Straße werde auch bei einer Verlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene zunehmen, ist sich der Tessiner Baudirektor Marco Borradori gewiss. Im Kanton Uri fürchtet man dagegen zusätzlichen Verkehr auf der Gotthardroute. Dem motorisierten Transitverkehr werde Tür und Tor geöffnet, warnt Simmen. Das Schweizer Volk habe sich per Volksabstimmung für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung entschieden, was jetzt mißachtet wird. Überdies würde ein weiterer Ausbau der Autobahn den ohnehin knappen Lebensraum ebenso zusätzlich beschneiden, wie die jetzt bekannt gewordene Streckenführung der Neat.

Ende Juni entschied der Schweizer Bundesrat in Bern, die Streckenführung zum neuen Eisenbahntunnel am Gotthard nicht in den Bergen östlich der Reuss zu bauen, sondern durch die freie Ebene. Bisher hatten die meisten Urner das ehrgeizige Projekt Neat unterstützt, denn es sollte helfen, den Schwerverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. "Wir gingen aber davon aus, dass die Zufahrtstrecke zum Gotthard in der östlichen Bergflanke des Reusstals getrieben wird", erläutert Simmen. Eine entsprechende Planung, die einerseits alle Vorgaben für eine europäische Schnellbahn berücksichtigt und andererseits dem Lärm- und Landesschutz Rechnung trägt, wurde vom Kanton erarbeitet. Die Verkehrsplaner des Bundes favorisierten dagegen eine Vision extra langer Züge. Diese sollen mit 1500 Metern doppelt so lang sein, wie es die europäische Norm vorsieht, und speziell für den Transit durch die Schweiz zusammengestellt werden. Nur so könne die Neat eine Leistungsfähigkeit erreichen, um angenommen zu werden und wirtschaftlich zu sein. Die vom Kanton geforderte Bergvariante hätte die Kapazität für den Güterverkehr geschmälert und die beabsichtigte Verlagerung von der Straße auf die Schiene gefährdet, begründet man in Bern den Beschluß. Ein Nadelöhr im Reusstal könne man sich nicht leisten. Ausserdem bringe die oberirdische Linienführung dem Kanton schnelle Verbindungen nach Mailand und ins Ruhrgebiet.

Für die rund 35.000 im Kanton Uri lebenden Menschen kommt die Entscheidung einer Katastrophe gleich. Schon jetzt ist ihr Siedlungsraum durch Autobahn, Bundesstraßen, Eisenbahn und Starkstromleitungen stark eingeschränkt. Die neue Linie mitten durch das enge Tal zu führen und es mit Lärm zu füllen, sei Wahnsinn, sagt Ingenieur Simmen. Der Region werde damit der Todesstoß gesetzt. "Das maximal zwei Kilometer breite Tal ist unser einziger Lebensraum", erinnert er. Achzig Prozent des Kantons würden über 1.500 Meter Höhe liegen: "Da kann man nicht leben." Von einer "raumplanerischen Katastrophe" spricht auch der Seedorfer Gemeindepräsident Paul Dubacher, der für die Schweizerische Volkspartei (SVP) im Urner Landrat sitzt. Er sieht vor allem für kommende Generationen den Anreiz schwinden, im Reusstal leben zu bleiben: "Die jungen Menschen werden fortziehen."

"Allein im Berg haben wir Platz genug", sagt Simmen. Aber die Könige des Bundesverkehrsamtes würde eine Linie fahren, die die Interessen der Wirtschaft höher wertet als die der Menschen. Bereits jetzt seien im engen Tal ganze Siedlungen durch die Bahn geteilt, Betriebe hätten Niederlassungen auf beiden Seiten des Schienenstranges und die Lastwagen müßten kilometerweite Umwege fahren, um von einem Werkteil zum anderen zu gelangen.

Nach ersten Berechnungen würde die neue Streckenführung den Abriß ganzer Siedlungen und auch mehrerer Betriebe mit sich bringen. Rund 750 Wohnungen, zehn Prozent der in der Reussebene liegenden, wären nicht hinnehmbaren Lärmbelastungen ausgesetzt. Dabei sei die Bergvariante nicht einmal wesentlich teuer als die oberirdische, versichert Simmen. Ein ohrenbetäubender Krach stoppt seine verbale Argumentation. Der Ingenieur schweigt und zeigt auf den zwischen Kirche und Schiffsanlegestelle vorbeidonnernden Containerzug der Schweizerischen Bundesbahnen. 500 Meter sei der lang: "Wir haben uns daran gewöhnt, wenn der Zug kommt, spricht man nicht. Wenn die Züge allerdings in Zukunft 1,5 Kilometer lang sind, können wir einen Kaffee aufsetzen."

Wie es weiter gehen soll, weiß in Uri noch niemand. Es gibt keine rechtlichen Mittel gegen den Entscheid des Bundesrates. Die überparteiliche Allianz "Neat in den Berg" will eine Verfassungsinitiative des Kantons unterstützen und "mit allen Mitteln" gegen die Talvariante und die zweiröhrige Gotthard-Autotraße vorgehen. "Wir bemühen uns, die demokratischen Regeln einzuhalten", sagt Simmen. Aktionskünstler Steck wird da schon deutlicher. Er wundere sich, daß die Urner noch nicht gröber geworden sind. Alles dürfe man sich nicht gefallen lassen. Wilhelm Tell sei letztlich auch der Geduldsfaden gerissen.

Fürs erste setzen die Urner symbolische Zeichen gegen die "diktatorische Ignoranz" Berns. "Wir sehen uns gezwungen, die Schwurfinger der Eidgenossen zu verhüllen", sagt Simmen am Vierwaldstätter See. Solange die Rechte und Anliegen der Urner mißachtet und der Gedanken der Eidgenossenschaft mit Füßen getreten würden, verkomme der Rütli-Schwur zu einem Hohn. Schließlich hatten die Vorfahren vor mehr als 700 Jahren auf dem Rütli geschworen, einander in Not gegenseitig Beistand zu leisten.

Viel Zeit bleibt nicht. Bis Ende des Jahres soll das Neat-Bauprojekt fertig ausgearbeitet werden. Baubeginn könnte dann Ende 2002 sein.


 
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