© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
CD: Klassik
Johannes-Passion
Julia Poser

Wohl jeder Musikfreund kennt die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach aus dem Jahr 1727. Im Vergleich mit dieser "Großen Passion" ist die drei Jahre früher entstandene Johannes-Passion weniger bekannt und seltener zu hören. Bach schrieb sie für seinen Einstand in Leipzig während der fünf freien Fastenwochen, in denen er nicht wöchentlich neue Kantaten komponieren und mit den Thomanern einstudieren mußte. Die Johannes-Passion ist herber und schlichter als ihre große Schwester. Später überarbeitete Bach die erste Fassung, die dadurch dramatischer und gestraffter geworden ist. Diese Fassung hat die Firma ARTS zum 250. Todesjahr von J.S. Bach am 28. Juli in einer beeindruckenden Einspielung herausgebracht.

Führend in der Musikentwicklung des Barock in Europa war Italien, das mit seiner Opera seria, seinen Kastraten und Primadonnen einen unglaublichen und sich schnell über Europa verbreitenden Erfolg hatte. Dazu kamen die prächtigen Konzerte, die Concerti grossi. Frankreich entwickelte die Ballettsuiten, die Ouverturen, Vorläufer der späteren Symphonien und verherrlichte in seinen Opern den heldischen Menschen. England hatte vor Händel den Komponisten Purcell mit seinen Oden und Anthems, einer englischsprachigen, geistlichen Chormusik. In Deutschland gab es dagegen fast nur strenge Kirchenmusik. So fühlte sich Bach auch sein ganzes Leben lang der "heiligen Frau Musica" verpflichtet. Seine Musik sollte ausschließlich "zur Ehre Gottes und Recreation des Gemütes dienen". Unter jede Partitur schrieb daher der gläubige Lutheraner "Soli Deo Gloria". Lange Zeit galt Bach nur als der biedere Thomaskantor, der allsonntäglich eine neue Kantate komponierte. Sein Genie, sein Ringen um Vollendung beschreibt Wittgenstein: "Wer sich so vollkommen ausdrücken kann, spricht zu uns die Sprache eines großen Menschen."

In einer Passion singen neben dem Chor, der das Volk darstellt, ein Evangelist und die Sänger von Christus, Pilatus, Petrus sowie andere Beteiligte. Der Evangelist trägt die Leidensgeschichte in Rezitativen vor. Diese Erzählungen werden von Chorälen und Solo-Arien unterbrochen, die eine religiöse Meditation widergeben. In den Massenchören erreicht Bach beim Lärmen des Volkes in "Kreuzige, kreuzige!" gewaltige dramatische Wucht. Die schönsten Melodien findet er jedoch in den Arien, in welchen Bach die Erschütterung über die einzelnen Ereignisse zum Ausdruck bringt.

Der Dirigent Diego Fasolis läßt den barockerfahrenen Chor von Radio Svizzera schon in der Einleitung mächtig tönen: "Herr, unser Herrscher".

Geradezu fanatisch singt der Chor die Gerichtsszenen. Dazwischen erklingen erfüllt von tiefer Frömmigkeit die Choräle. Das Ensemble "Vanitas" Lugano, das sich auf historische Instrumente spezialisiert hat, war dem Chor und den Solisten ein klangschöner Partner. Es wartete mit einer Fülle von orchestralen Feinheiten auf. In den Sopran-Arien bezauberte Roberta Invernizzi mit ihrer innig süßen Stimme. Puren Wohllaut verströmte sie in der ergreifenden Arie "Zerfließ, mein Herze in Fluten der Zähren". Claudia Schuberts warmer Alt erschütterte beim Tod Jesu. "Es ist vollbracht!" Klaus Mertens verkörperte mit edeltimbriertem Baß die Figur von Jesus. In den Dialogen mit Pilatus, gesungen von Alfredo Grandini, zeigten beide Sänger Würde und Hoheit. Der Tenor Nico van der Meel gestaltete ausdrucksvoll die Rezitative des Evangelisten. Jeremy Ovenden sang mit klarem Tenor die anklagende Arie über die Verleugnung des Petrus "Ach, mein Sinn wo willst du endlich hin?"

Diese empfehlenswerte Einspielung erweist, daß die Johannes-Passion musikalisch der eher volkstümlichen Matthäus-Passion durchaus ebenbürtig ist.


 
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