© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Die Festung bröckelt
Rechtschreibreform: Wenn die Politik versagt, müssen die Bürger Dampf machen
Alexander Barti

Plötzlich scheint alles wieder offen! Wieso die Frankfurter Allgemeine Zeitung wieder zur alten Schreibweise zurückgekehrt ist, bleibt ein Rätsel – Mitgefühl für die schreibende Bevölkerung, die laut Umfragen zu 75 Prozent die verordneten Neuerungen ignoriert, wird es wohl nicht gewesen sein. Vielleicht sollte das Ganze nur eine selbsterlösende Rettungsaktion sein, um das jährlich drohende Sommerloch zu stopfen. Daß die Medien undankbar die Handreichung verschmähen und statt dessen zur diffamierenden Hetzjagd auf alles "Rechte" (oder vermeintlich Rechte) blasen, das hätten sich die klugen Köpfe aus Frankfurt sicher nicht träumen lassen.

So droht ein wahrlich wichtiges Thema, die verkorkste Rechtschreibreform, zwischen Skinheads, Fahnenmeer und Gut-Menschen-Rhetorik der volksentfremdeten Volksvertreter unterzugehen. Dabei leugnen heute selbst die Befürworter des verordneten Reformmonstrums nicht mehr, daß die Bezeichnung "Reform" eine gutgemeinte Irreführung ist. Mit einer Nachbesserung – ein administrativer Schachzug, der in Zeiten der "Neuen Mitte" offenbar nicht nur in der Politik Furore macht – wollen die Verteidiger des Neuschrieb die besonders sinnlosen Regeln entschärfen und so retten, was Wolfgang Wrase, Lektor und Korrektor in München, als "künstlich ernährte Halbtote" bezeichnet.

Überhaupt ergibt sich ein sehr diffuses Bild, wenn man den Frontverlauf von Befürwortern und Gegnern der Schreibreform betrachtet. Der Schriftsteller und und Literaturnobelpreisträger Günter Grass zum Beispiel, dem man wahrlich kaum Distanz zu Rot-Grün nachsagen kann, polterte diese Woche, daß "das Festhalten an einem mißlungenen Reformversuch gegen den entschiedenen Willen der Bevölkerung – auch wenn dies nicht die Absicht der Verantwortlichen war – doktrinäre Gestalt annimmt". Auf der Strecke bleibt laut Grass nicht nur die "mühsam erlernte demokratische Verhaltensweise" der Deutschen, sondern auch die Kinder würden "infolge dieser Pseudoreform nicht das Leichte, sondern das Falsche" lernen.

Ebenso klingt es aus Kreisen der Wirtschaft . Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), erklärte, das Schreiben nach Lust und Laune sei ein Ergebnis der Reform und erhöhe so die Transaktionskosten in den Betrieben und erschwere zudem die Kommunikation.

Delikat war auch das Interview mit dem Chef der Deutschen Presse Agentur (dpa), Wilm Herlyn, im Spiegel. Er widerspricht hier der verbreiteten Mär, (fast) alle Printmedien hätten die neue Schreibweise eingeführt, weil die dpa vorher umgestellt habe. Die Agentur habe "die neue Rechtschreibung vor allem eingeführt, weil unsere Medienkunden das so wollten", erklärt Herlyn. Er selbst schreibe aber, fügt er hinzu, privat nach den alten Regeln. Leider ist es nicht verwunderlich, daß die konsequente Ablehnung der Rechtschreibung durch die JUNGE FREIHEIT nicht zur Kenntnis genommen wurde, weder in der Anfangsphase des Chaos noch jetzt, da die Festung der Verwirrung stiftenden Neuerer zu bröckeln beginnt. Ein kleiner Triumph ist das Umkippen des Riesen FAZ und das damit verbundene hektische Aufflattern der anderen Meinungsführer dennoch nicht nur für die JF-Redaktion.

Bundesbildungsministerin Bulmahn (SPD) und auch die meisten Bildungsminister der Länder lehnen die Rückkehr "zur bewährten und besseren Rechtschreibung" (Grass) ab. Frau Bulmahn versteigt sich sogar zu der wenig glaubhaften Behauptung, die Rechtschreibregeln seien gar "keine politische Entscheidung". Wieso sich dann gerade die Politik so vehement gegen die Abschaffung der unsinnigen Verordnung stemmt, bleibt das Geheimnis der Frau Ministerin. Bei Matthias Berninger, Bildungsexperte der Grünen, zeigt sich in der Frage der Rechtschreibreform ein erstaunlich wenig "progressiver" Reflex: die Diskussion sei ein "Sommertheater, weil man sich nicht an die neuen Regeln gewöhnen will. Die neuen Regeln müssen bleiben. Basta!" Sprache sei keine Industrienorm, fügt er hinzu, und im Zeitalter des Internet könne man sich auch einer Symbolsprache aus Zahlen (2 much 4 U) nicht verschließen.

Das frappierendste Beispiel für politische Einflußnahme gegen das Aufbegehren der Bürger ist das Land Schleswig-Holstein. Dort wurde im vergangenen Jahr das erfolgreiche Volksbegehren gegen die Reform von der rot-günen Landesregierung kurzerhand wieder kassiert. Bei solch schamlosen Bevormundung des "aufgeklärten Bürgers" sollte sich die politische Klasse nicht wundern, wenn sie nach der verantwortungsbewußten Zivilgesellschaft Ausschau hält – und keine findet. Wem man das Hoheitsrecht über die eigene Sprache nicht zuerkennt, der wird auch für andere Belange des Gemeinwesens schwerlich zu begeistern sein. Trotzdem: Die Bürger sollten sich nicht entmutigen lassen und unverzüglich die Volksentscheid-Maschinerie in Gang setzen!

Denn wer glaubt, die anderen Tages- und Wochzeitungen werden mit einer schwungvollen Rolle rückwärts dem Beispiel der FAZ (und der JUNGEN FREIHEIT) folgen, wird sich täuschen. Statt einer Umkehr wird sich bei der Rechtschreibung durchsetzten, was in der Gesellschaft schon lange manifestiert ist: Individualismus über alles! Verlage, Schulen und andere Bildungseinrichtungen haben entgegen früherer Behauptungen, die Reform werde kostenneutral sein, schon zuviel Geld in neue und kostspielige Programme und Medien gesteckt, so daß sie schon deswegen den einmal eingeschlagenen Weg weiter beschreiten werden.

Daneben bilden sich Inseln der alten Rechtschreibung, darunter einige Zeitungen, der Deutsche Hochschulverband und die literarischen Werke derjenigen Autoren, die ihren Verlagen vebieten, ihre Texte durch die Neuschreibung zu verunzieren. Das Individuum aber wird schreiben, wie es ihm gerade in den Sinn kommt, also individualistisch, liberalistisch, chaotisch. Für die Anhänger der politischen "Regellosigkeit" ist die gescheiterte Rechtschreibreform ohne Zweifel ein Triumph, an dessen planmäßige Verwirklichung sie nicht im Traume denken konnten, denn wohl niemand konnte ahnen, daß die verordneten Neuerungen auf halber Strecke stehen bleiben.

Wie weit die geistige Umnachtung vorgedrungen ist, wird der aufmerksame FAZ-Leser in der Ausgabe vom 5. August bemerkt haben: Dort prangt auf Seite 7 eine ganzseitige, farbige Anzeige des Duden Verlages, in der "das umfassende Standardwerk auf Grundlage der neuen amtlichen Regeln – jetzt noch benutzerfreundlicher" angepriesen wird. Wenn man diesen Akt der völlig fehlgeleiteten Werbung in die politische Landschaft projiziert, käme das einer ganzseitigen Anzeige der NPD in der tageszeitung gleich.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen