© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Kulturkampf im Heiligen Land
Israel: Rabbi Ovadia Josef verhöhnt die Opfer des Holocaust – und entschuldigt sich / Barak braucht ihn trotzdem
Ivan Denes

Israel hat seit jeher zwei Oberrabbiner: einer dient als geistiges Ober haupt der aschkenasischen Gemeinde – der Gemeinde europäischen Ursprungs –, der andere der sephardischen – orientalischen – Gemeinde. Sephardische Gemeinden sind von der Atlantikküste Marokkos bis in den Jemen und in den Iran angesiedelt gewesen. Der Begriff "sephardisch" kommt vom Namen "Sfarad" – Spanien. Ein Großteil der orientalischen Juden sind die Nachkommen der von der Inquisition aus Spanien vertriebenen Juden.

Mit wenigen Ausnahmen – etwa die Gemeinden von Saloniki oder Rom – hatten die sephardischen Juden nicht unter dem Holocaust zu leiden. Der Holocaust war grundsätzlich gegen das europäische Judentum gerichtet.

Israel ist ohne Zweifel eine Gründung aschkenasischer Juden. Erst nach der Staatsgründung kam ein massiver Schub sephardischer Einwanderer, die aus arabischen Ländern vertrieben wurden. Zu einem gewissen Zeitpunkt gab es ein demographisches Gleichgewicht der beiden Gemeinden, dieses kippte dann erneut zugunsten der aschkenasischen Juden infolge der Masseneinwanderung aus der Sowjetunion.

Sephardische Juden waren meist arm, wenig ausgebildet und hatten bei ihrer Ankunft kaum Kontakt zur modernen Welt. Sie wurden damals mit DDT entlaust und in primitive Immigrantenlager in der Wüste Negev geschickt. Sie lebten in Großfamilien und konnten daher wenig zur Gestaltung des neuen, modernen Staates beitragen. Zum größten Teil wählten sie konservative Parteien, weil sie mit den sozialistischen Ideen der staatstragenden Arbeiterpartei wenig anzufangen wußten.

Die innere Zersplitterung der israelischen Gesellschaft verläuft nicht nur entlang der Trennungslinie aschkenasisch – sephardisch, sondern auch säkular – orthodox. Sowohl die aschke- nasische als auch die sephardische Orthodoxie versuchten sich von Anfang an politisch zu artikulieren, indem sie eigene Parteien ins Leben riefen. Die bekannteste aschkenasische Gruppierung war die Nationale Religiöse Partei, der lange der aus Dresden stammende Josef Burg vorstand, dessen Sohn zur Zeit der Sprecher des israelischen Parlaments ist. Die politische Formation der sephardischen Orthodoxie ist die 1984 gegründete Shas-Partei – weitgehend das Werk des jetzt 79jährigen sephardischen Oberrabbiners a.D. Ovadia Josef.

Die Shas bot dem sephardischen Proletariat eine Mischung aus religiösem Glauben, ethnischem Stolz und sozialem Mitgefühl. Der Erfolg der Shas beruht auf einem Rezept, das auch von den Fundamentalistenparteien in der arabischen Welt angewandt wird, seien es Moslembruderschaft, Hamas, Islamischer Jihad oder Hisbollah. Shas holte Drogenabhängige von der Straße, empfing Häftlinge nach der Entlassung am Gefängnistor und brachte sie in Religionsschulen unter, half Prostituierten, ein neues Leben aufzubauen. Shas gründete Kinderkrippen, Kindergärten und entwickelte ein eigenes Schulsystem. Um ihre sozialen Programme finanzieren zu können, brauchte die Shas Regierungsgelder. Das machte sie zum potentiellen Koalitionspartner für jedwede Regierung, ganz gleich, ob unter Führung der linken Arbeiterpartei oder des rechten Likud. Moderat-religiös, politisch gemäßigt, anpassungsfähig, wenn nur die Kasse stimmte: Shas ist das klassische Zünglein an der parlamentarischen Waage. Mit ihren 17 Abgeordneten ist sie drittgrößte Partei, ohne die Koalitionen nur sehr schwer zustande kämen. Diese Position hat die Shas unter Rabbi Josefs geistig-politischer Führung reichlich ausgenutzt – zur Erpressung. Ob es um Finanzierung von Schulen oder um Wehrdienstbefreiung der Jeshiva-Studenten ging – Shas hat kein Mittel gescheut. Der frühere Minister – und von Rabbi Josef selbst ausgewählte Parteivorsitzenden Arie Deri, ein immens charismatischer, brillanter Zögling Josefs, wurde im April 1999 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt: wegen Betrugs und Unterschlagung zugunsten parteieigener Institutionen.

Rabbi Josef, in Bagdad geboren, ein Mann mit einem ungewöhnlichem Textgedächtnis, hat sich politisch ins Lager der "Tauben" geschlagen, indem er ein sogenanntes "halachisches" Urteil erließ – das etwa der "Fatwa" eines hochrangigen moslemischen Geistlichen entspricht – demzufolge menschliches Leben wertvoller sei als Gebietsbesitz und folgerichtig das Prinzip "Land gegen Frieden" mit den Palästinensern theologisch gerechtfertigt sei.

Als sich nun vor der Camp-David- Konferenz abzeichnete, daß Ehud Barak bereit sei, das bisherige Tabu "Jerusalem" zu brechen, änderte Rabbi Josef erneut den Kurs und befahl den Shas-Ministern, die Regierung zu verlassen. Rabbi Josef wandelte sich erneut zum Nationalisten – ja, zu einem regelrechten Rassisten.

An jedem Sonnabend, nach Ausklingen des Sabbat-Festes, bedient sich der Rabbi der beiden Rundfunkstationen von Shas und einer Satellitenfernsehübertragung ins Ausland, um seine Lehre zu verkünden. Am 5. August hielt er eine Predigt, die alle bisherigen Leistungen des als "faules Maul" bekannten Mannes übertraf, beschimpft er doch die weltlichen Richter unentwegt mit unflätigsten, biblischen Ausdrücken.

Über Baraks Absicht, Jerusalem zu teilen, erhitzte sich das Gemüt des Rabbis jedoch über das bei ihm übliche Maß hinaus. Er bezeichnete den Ministerpäsidenten als "Amokläufer", der den Arabern hinterherjage. Aber Araber seien "Schlangen". Barak bringe die Schlangen in unsere Nachbarschaft, aber wer könne neben Schlangen leben? "Die Söhne Ismaels (damit sind die Araber gemein) sind alle Bösewichte, sie sind allesamt Feinde Israels. Der Heilige, gelobt sei sein Name, bedauert, daß er diese Ismailiten überhaupt geschaffen hat."

Aber dieser biblisch-rassistische Ausfall war es nicht, der die gesamte jüdische Öffentlichkeit – in Israel und in der Diaspora – zum Aufruhr brachte. Denn Rabbi Ovaida Josef sprach auch über den Holocaust: "Die sechs Millionen unglückseligen Juden, die von den bösen Nazis ermordet wurden, möge ihr Name gestrichen sein, sind sie für nichts gestorben? Nein. Sie sind die Reinkarnation früherer Seelen, die gesündigt haben, von Sündern, die säkular geworden sind und die unerlaubte Dinge zuließen und allerlei betrieben haben, was nicht betrieben werden sollte und die in einer Neuinkarnation zurückgekehrt sind, um zu büßen". Tags darauf versuchte der Rabbi zu beschwichtigen, ja die Holocaust-Opfer heilig zu sprechen – umsonst. Der Dschinn war aus der Flasche.

Nun, das ist wahrlich starker Tobak. Denn in der eigentlichen jüdischen Theologie gibt es keine Lehre von der Reinkarnation. Lediglich in den mystischen Verzweigungen des Judaismus, etwa im Buche Zohar oder in der Lehre einiger Kabbalisten ist von der Wiederkehr der Seele die Rede. Die "klassische" jüdische Theologie kennt keine Wiedergeburt der Seele, wie sie auch keine Lehre von einem Leben nach dem Tode kennt.

Nach dem Holocaust gab es eine tiefschürfende, theologische Debatte unter jüdischen Gelehrten, darunter Stimmen, die behaupteten, das Leiden des Judentums sei auf seine Sünden zurückzu führen. Dies sei die Überzeugung der Rabbiner, die meinen, man könne Gott nicht "schuldig" für das Geschehene erklären, deswegen sucht man den Fehler bei den Menschen. Andere meinten, Gott habe seine auserwählten Kinder vergessen. Einige Rabbiner urteilten, es sei zu früh, um den Holocaust zu deuten, er könne sich schließlich auch als etwas Positives für das Judentum erweisen. Der Satmarer Rebbe (Teitelbaum) lehrte zu gewisser Zeit sogar, daß der Holocaust die Strafe Gottes sei für die zionistischen Bestrebungen, zumal der Staat der Juden nur bei der Ankunft des Messiah entstehen dürfe. Und viele Orthodoxe wurden nach dem Holocaust zu Atheisten. (Auch im Christentum entstand ja nach dem Zweiten Weltkrieg die "Theologie vom Tode Gottes").

Der wahre Hintergrund, der wahrscheinlich den Ausbruch des Rabbi Ovadia Josef bestimmte, war eine besondere Art der Frustration. Sephardische Juden wurden praktisch aus der jahrzehntelangen exegetischen Debatte über den Holocaust weitgehend ausgeschlossen. Und diese Debatte führte, besonders in der Gemeinschaft der amerikanischen Juden, zur Entwicklung eines Bewußtseins einer zweiten Auserwähltheit. Der Holocaust sei ein einmaliges Ereignis in der gesamten Weltgeschichte, so lautet die neue Theologie, und wer die Einmaligkeit des Leidens durchstanden habe, sei eben selbst einmalig – das ist der Gedanke oder genauer: das Gefühl der zweiten Auserwähltheit, von dem die Sepharden aus offenkundigen geschichtlichen Gründen ausgeschlossen bleiben. Adolf Eichmann hatte ja nicht die Gelegenheit, die marokkanischen oder die jemenitischen Juden zu deportieren, was den guten Rabbi Josef derart erbost, daß er sogar, so der Knesset-Abgeordnete Josef Lapid, Hitler rechtfertigt, der ja auch behauptet habe, Juden seien allesamt Sünder, Bösewichte. Andere meinen jedoch, Rabbi Ovadia Josef sei lediglich ein alter, senil gewordener Narr.


 
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