© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Der Ewige Großinquisitor
Ulrich Schmid: Der Zar von Brooklyn
Doris Neujahr

Die nach 1989 mancherorts er wartete, von einigen gewollte und von anderen befürchtete Hinwendung Deutschlands nach Osten – namentlich nach Rußland –, seine Rückkehr in eine Mittellage, hat nicht stattgefunden. Es bestätigt sich, was ein wacher Zeitgenosse wie Wolf Jobst Siedler vor Jahren dignostizierte: Stalin hat das Gesicht der Deutschen brutal nach Westen gedreht: politisch, militärisch, kulturell. Daran ändern auch jüngste Beschwörungen eines "russischen Berlin" – gemeint ist die aktuelle russisch-jüdische Zuwanderung in die Hauptstadt – nichts. Wer heute in Deutschland russische Kultur konsumiert, will sich nicht deutsch-russischer Seelenverwandtschaft vergewissern oder des Ostens moralische, religiöse oder sonstige Tiefendimension entdecken. Meistens ergötzt er sich, mit wohligem Schauer, am Exotischen und Unheimlichen der zivilisatorischen Tundra und delektiert sich an der großen Distanz, am eigenen Vorsprung an Alltagskultur, der ihn von ihr trennt. Das östliche Desaster wirkt als Bestätigung der eigenen, der besten aller möglichen Welten!

Dabei ist es, historisch gesehen, erst kurze Zeit her, daß die Deutschen fasziniert nach Rußland blickten. Auch dafür hat, wie fast immer, Nietzsche die entscheidenden Stichworte geliefert, als er Rußland als die einzige Macht bezeichnete, "die Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann. Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst." Diese Topoi waren lange prägend und wurden weder durch den Ersten Weltkrieg noch die Oktoberrevolution ausgelöscht. "Der Weltkrieg hat das deutsche und das russische Volk in eine Schicksalsgemeinschaft gebracht", meinte Moeller van den Bruck und fügte hinzu: "Es ist ein Erdgesetz, daß der Osten sich gegen den Westen stellt." Thomas Mann, der "Unpolitische", überbot in seinen Tagebüchern die Radikalität seiner berühmten Streitschrift bei weitem: "Nieder mit der westlichen Lügendemokratie! Hoch Deutschland und Rußland! Hoch der Kommunismus!" Solche Hoffnungen sahen alle diese Zivilisationskritiker in Dostojewski personifiziert. Hugo von Hofmannsthal 1922: "Hat die Epoche einen geistigen Beherrscher, so ist es Dostojewski", denn "er stößt durch die soziale Schilderung hindurch ins Absolute, ins Religiöse – die jungen Menschen glauben in seinen Gestalten ihr eigenes Innere zu erkennen".

Der Schweizer Autor Ulrich Schmid kennt diese kulturgeschichtliche Faszination sehr genau. Er zitiert und dekonstruiert sie; er weiß, warum sie heute in Wahrheit wenig zählt. Sein Debütroman ist in literarischer Hinsicht ein Glücksfall und zugleich eine packende, erhellende Informations- und Aufklärungsschrift. Es ist ein Buch über das aktuelle Rußland und zugleich über den illusionsgetrübten Blick des Westens. Schmid, Jahrgang 1954, war von 1991 bis 1995, also in der heißesten Umbruchphase, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Moskau. Seine Reportagen führten ihn nach Tschetschenien, Georgien, Moldawien, Tadschikistan und natürlich in verschiedenste Winkel Rußlands. In dieser Zeit entstand das Buch "Gnadenlose Bruderschaften" über den Aufstieg der russischen Mafia. Danach arbeitete er als NZZ-Korrespondent in Washington und Peking. Sein Beruf hat ihn also bestens für sein Ost-West-Panorama präpariert.

Sascha, ein junger Moskauer Journalist, erhält den Auftrag, Porträts über Exilrussen im New Yorker Stadtteil Brooklyn – "Little Odessa" – zu schreiben. Beiläufig schlagen seine Auftraggeber ihm vor, den Geschäftsmann Gennadi Markow ausfindig zu machen. Sascha ist fasziniert von Markow und zugleich eingeschüchtert, denn er fühlt, daß der unheilbar an Krebs Erkrankte von einem gefährlichen Geheimnis umgeben ist. Nach Rußland zurückgekehrt, sieht er sich seinetwegen immer drängenderen Fragen ausgesetzt. Markow, der "Zar von Brooklyn", wird zu Saschas Schicksal, als die Meldung von seinem Selbstmord eintrifft.

Sascha kann an Markows Freitod nicht glauben und fliegt erneut zu Recherchen in die USA. Bestärkt wird er durch Tracy, eine mondäne, junge Amerikanerin, die es schick findet, sich für Wahrheit, Recht und Demokratie zu engagieren und dazu noch einen potenten russischen Liebhaber zu besitzen, dem das exotische Odium heiliger russischer Erde anhaftet. Ihr aufgeflammtes Interesse erlischt umgehend, als sie die diffus-kriminelle Bedrohung verspürt, die von Markows Umfeld ausgeht und auf die ihr wohlbehütetes Leben sie nicht vorbereitet hat. Ihr bleibt die düstere Erkenntnis, daß die Russenmafia auch in den USA längst über exterritoriale Bezirke verfügt und ihre Krakenarme in die Behörden ausstreckt.

Schicht für Schicht dringt Sascha zum Geheimnis des toten "Zaren" vor, zunächst getrieben von der eigenen Neugier, dann geschoben und gejagt von unbestimmbaren Kräften, bis er im Herzen einer neuen, mächtigen Oligarchie angelangt ist, zu der die Mafia, der KGB, alte Genossen und neuer Geldadel mittlerweile verschmolzen sind. Diese Oligarchie besitzt einige Schlüssel zu den Rätseln um Markow, und bei Sascha vermutet sie die übrigen. Nirgendwo sonst in Rußland, bekennt dieser am Ende, walten soviel "Disziplin (...), starker Wille und eindrückliche Vernunft" wie in dieser Organisation, und so wird für ihn, der eben noch beruflich, gesellschaftlich, privat und auch physisch erledigt schien, auf makaberste Weise alles, alles gut.

Was für Außenstehende die schwierige Demokratisierung Rußlands ist, stellt sich im Roman als Transformation zu einer neuartigen, brachialen Variante virtueller Realität dar, die unmittelbar an den Geltungsanspruch der kommunistischen Ideologie anknüpft. Niemand ist der, der er zu sein vorgibt, niemand in diesem Marionettenspiel ahnt auch nur, welche Rolle ihm tatsächlich zugewiesen ist, und vor allem kann niemand sich sicher fühlen. Diese extreme Verunsicherung hängt eng mit dem Zusammenbruch des streng manichäischen Weltbildes der Sowjetzeit zusammen. Ein ermordeter Bürgerrechtler zum Beispiel, der die Mafia-Verbindungen zur Politik enthüllen wollte, geistert ausschließlich in den differierenden Erinnerungen seiner Gegner durch die Handlung. Da die eindeutig düstere Feindfolie des Sowjetstaates nicht mehr existiert, kann auch niemand mehr einfach vor ihr als moralische Lichtgestalt glänzen und als Don Quichote wider die Macht des Bösen wenigstens zum traurigen Helden aufsteigen! Wird die äußere Struktur des Buches von der Logik des Kriminalromans bestimmt, so die innere von der Großinquisitor-Legende aus Dostojewskis "Brüder Karamasov". Darin bekennt der Kirchenmann, in Wahrheit gäbe es kein Verbrechen und folglich keine Sünde, sondern nur Hungrige; die ausgeübte Macht werde allein dadurch gerechtfertigt, daß sie die Hungrigen satt mache. Der Kommunismus war eine vergleichbare Heilslehre, deren Umsetzung bekanntlich mißlang. Doch ihre wichtigsten Voraussetzungen – der Wille zur Macht wie auch der Hunger – haben den Systemzusammenbruch überdauert. Da das organisierte Verbrechen die effizienteste Form der Machtausübung ist, die kommunistische Periode alle gegenläufigen, zivilisierenden Traditionsbestände ausgelöscht oder korrumpiert hat und andere Heilsideologien nicht in Sicht sind, muß es sich nun, als einziges vorhandenes Ordnungsprinzip, zwingend des russischen Staates bemächtigen – als die letzte Hoffnung in allgemeiner Verwahrlosung und Not! Dieser faszinierenden Einsicht kann auch Sascha sich nicht entziehen.

Bei Dostojewski küßt Jesus den Inquisitor auf den Mund, pflanzt so den Zweifel in dessen Herzen und relativiert seine Machtstaatvision zugunsten einer christlich fundierten Ethik. Sascha hat den genau entgegengesetzten Fingerzeig erhalten, als er kurzzeitig in einen Raum gesperrt wurde, in dem ein Käfig mit einer gefangenen Ratte stand. Für ihn – wie auch für den Leser – ist dies eine deutliche Anspielung auf jene Szene aus Orwells "1984", in welcher der Hauptfigur Winston Smith ein Rattenkäfig vor das Gesicht geführt und Smith gedroht wird, sein Gesicht von dem hungrigen Nager zerfleischen zu lassen. Smith’ Persönlichkeit wird dadurch ausgelöscht und im Sinne des totalitären Systems bis in die tiefsten Bereiche seines Denkens und Fühlens hinein neu geformt. Das Grauen dieses "Rattenkusses" ist im Unterbewußtsein der posttotalitären Gesellschaft so stark präsent, daß bereits die Androhung seiner Androhung ausreicht, um die Untertanen zu disziplinieren. Das gesamte, in der Ich-Form verfaßte Buch ist Saschas Buß- und Unterwerfungsschrift an die Adresse des "Ewigen Großinquisitors".

Das Buch propagiert mit dieser düsteren Pointe keineswegs eine Abkehr von Rußland. Angesichts der Größe und potentiellen Macht des Landes wäre das auch illusorisch. Es ist, als habe Ulrich Schmid eine Diagnose Heiner Müllers – ein noch wacherer Zeitgenosse als Wolf Jobst Siedler – vom Kopf auf die Füße stellen wollen. Der hatte beim Überfliegen Sibiriens bemerkt, hier liege die wichtigste Zeitreserve, über die der Westen verfüge. Wer wessen Reserve sein wird, das ist allerdings noch die Frage! Schmids Rußland ist ein anderes, als man es aus alten Büchern oder aktuellen Nachrichtensendungen kennt (obwohl es mit beiden etwas zu tun hat), eines, dem man weder mit Kulturkonsnobismus noch mit gemütvoller Nostalgie gerecht werden kann.

"Der Zar von Brooklyn" hat das Zeug zum literarischen Bestseller und zum Standardwerk für Osteuropa-Interessenten außerdem. Die Aufnahme durch die Rezensenten in Deutschland war bisher freundlich, aber distanziert. Erklärt diese Distanz sich aus heimlichem Kollegenneid? Wenn das Buch aus der Feder von, sagen wir, von T. Coraghessan Boyle oder Don Delille stammte, wäre es garantiert groß herausgestrichen worden. Wann endlich, hätte man getönt, gibt es in der deutschen Literatur eine vergleichbare Synthese aus Politthriller, Gesellschaftsroman und Psychodrama, eine ähnlich witzig-unterhaltsame Studie über nationale Klischees nach dem Ende des Ost-West-Konflikts? – Doch dieses konditionale Satzgefüge ist unsinnig. Denn eben dieses Buch existiert ja schon!

 

Ulrich Schmid: Der Zar von Brooklyn. Roman. Eichborn, Berlin 2000. 528 Seiten, 49, 80 Mark


 
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